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Was wäre aus Walter Gröger geworden, wenn er nicht auf den Marinerichter und späteren Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Dr. Hans-Karl Filbinger, getroffen wäre?
Diesem kurzen, für die damalige Zeit typischen Leben eines begeisterten Hitler-Jungen nachzuspüren, ist Kern des vorliegenden Doku-Dramas. Es veranschaulicht, wie sich in der Dorfidylle in Schlesien die Ideologie der Nationalsozialisten breit machen konnte. Anna Gröger, Walters Mutter, muss mit ansehen, wie ihre Kinder vom Hitler-Regime Schritt für Schritt manipuliert und am Ende im Sinne des verbrecherischen Systems missbraucht werden. Erst als es zu spät ist, versuchen sie dem braunen Mob den Rücken zu kehren. Ihren einzigen Sohn Walter wird sie 1943 zum letzten Mal sehen. Erst 30 Jahre später, im Jahre 1978, taucht sein Foto in den Nachrichten auf und sie beginnt, die Wahrheit zu erkennen.

Ergreifend – nachdenklich – informativ

 

Wenn das der Fuehrer saehe 

Autor: Jacqueline Roussety
Verlag: frankly Verlag
Erschienen: 12.03.2015
ISBN: 978-3-945857-05-2
Dateigröße: 1008 KB / 419 Seiten (vom Verlag geschätzt)


Inhalt, Stil und Sprache
Die Roman-Biografie Walter Grögers wurde in 2 Bände aufgeteilt: in die Jahre von 1933 bis Kriegsbeginn und in sein Schicksal während des Krieges bis zu seinem Tod 1945. Der mir vorliegende erste Band beginnt mit der Beschreibung der Hinrichtung, um dann Johanna Gröger, Walter Grögers Schwester, vorzustellen und einen kurzen Überblick zur Affäre Filbinger zu geben. Die Autorin und Journalistin Jacqueline Roussety nennt hier auch die Motive, die sie dazu brachten, sich der Geschichte Walter Grögers anzunehmen. Sie ist der Ansicht, dass ein Sachbuch zu Gröger nicht die Aufmerksamkeit bekäme, die sie anstrebt und wählt deshalb die Form des Romans.

Der Roman ist aus Sicht des Kindes Johanna Gröger in Ich-Form erzählt, die 1932 vier Jahre alt war. Hier stellt sich bereits die Frage, an wieviel sie sich überhaupt noch aus eigener Anschauung erinnert, und wieviel sie später aus den Berichten der Erwachsenen übernommen hat. Die "Erzählung" der sehr jungen Zeitzeugin wird durch Tagebuchaufzeichnungen der Mutter Grögers, die aber leider fast nie als solche kenntlich gemacht werden, ergänzt. Des Weiteren geht Roussety im einleitenden Kapitel nicht auf die spezielle Problematik von "Oral History" ein, als da u.a. sind: aus subjektivem Erleben wird objektive Wahrheit; unbewusst fließen nachträgliche Erkenntnisse in die Erinnerung ein; religiöse/ ethische Ansichten und sprachliche Fähigkeiten färben den Bericht. Zeitzeugenberichte sind keine wissenschaftlich hinterfragte Historie und als solche mit Vorsicht zu behandeln.

Die Autorin selbst verliert häufig die nötige Distanz und als Leser muss man diese immer wieder herstellen, um sich nicht ganz in den Dienst der Erzählerin zu stellen, die, zumindest im ersten Band, wenig von ihrem Bruder berichtet. Man erfährt noch nicht einmal, weshalb sich der überzeugte Hitlerjunge der Swingjugend zuwendet. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Autobiografie Johanna Grögers. Ich werde leider den Verdacht nicht los, dass das schreckliche Schicksal des Bruders, der aus meiner Sicht übrigens längst rehabilitiert ist (und es deshalb dieses Buches eigentlich gar nicht mehr bedarf), als Feigenblatt herhalten muss, um endlich die eigene Geschichte vom Verlust der Unschuld, der Kindheit und der Heimat erzählen zu dürfen. Die Wunden sind noch nicht vernarbt und die damit verbundenen Schmerzen überschatten die Erzählung - sie sind in jeder Zeile des Buches spürbar. Dies ist ein hartes Urteil und ich tue Frau Gröger gewiss Unrecht. In Wirklichkeit ist Roussety der Vorwurf zu machen, dass sie durch die hohe Emotionalität des Textes, die sie durch ihre ausgezeichneten schriftstellerischen Fähigkeiten erreicht, diesen Eindruck erweckt. Eine klare Trennung von Fakten (mit Kommentaren) und Zeitzeugenbericht hätte dem Buch gut getan. Eine Journalistin sollte zur Reflexion fähig sein, von Johanna Gröger erwarte ich sie nicht.

Allerdings wird es sicher auch LeserInnen geben, die eintauchen möchten in diese gut lesbare und mit einem eigenartigen Sog ausgestattete Beschreibung einer Kindheit in der dörflichen Idylle Mohraus, die selbst dann noch wie eine "Insel der Seligen" (bis 1939) wirkt, als längst gegenseitiges Misstrauen und Machtmissbrauch im Dorf Einzug gehalten haben. Der Untertitel "Die guten Jahre" mag so gar nicht passen. Allerdings wird diese Zeit von der ganz jungen Ich-Erzählerin so wahrgenommen, denn ihr Leben scheint bis 1939 "gut" gewesen zu sein; sie ist aufgehoben in ihrer Familie und in der Dorfgemeinschaft, erlebt den bäuerlichen Jahresablauf mit allen Sinnen und schildert ausgiebig Jahr für Jahr die diversen Bräuche und Feste, die das Jahr auf dem Dorf noch bestimmen. Nur ab und an bricht das "Schauermärchen der Erwachsenen" in ihren Alltag ein und macht ihr Angst. Roussety  bedient sich der bekanntern Märchen der Grimms, um die zeitweise Bedrückung Johanna Grögers zu transportieren. Ebenso gut stellt sie heraus, wie die Kinder und Jugendlichen für die Organisationen der Nazis (HJ und BDM) geködert wurden und langsam, aber sicher  ihren Eltern entglitten. Manches wird allerdings unzulässig vereinfacht dargestellt "[Hitler] hatte sie allesamt fest im Griff" (Seite 15). Hitler wars ist eine allzu bequeme Entschuldigung. Die allgemeine Hitlerverehrung wird ausschließlich als religiöser Wahn aufgefasst (Seite 235) und andere Ursachen bleiben ausgeblendet. 

In Romanform erklären zu wollen, wieso die Menschen in Deutschland die Nationalsozialisten verehrten und / oder sie "gewähren" ließen, und sich schließlich in deren Machenschaften verstrickten - selbst ihre Gegner konnten "umkippen“ -  kann gelingen, aber auch den Charakter einer Rechtfertigungsschrift annehmen. Roussety schafft den Spagat nur bedingt. Ihr Ziel, Walter Gröger zu porträtieren, erreicht sie in Band 1 nicht.


Aufmachung des Buches
Also, wenn dieses Cover nicht sofort ins Auge fällt, dann weiß ich auch nicht weiter; die schwarze Silhouette eines Mannes mit weißer Augenbinde und in Weiß gehaltenen Fesseln vor einem roten Hintergrund wirkt sehr dramatisch, da hätte es der Geschosse, die auf ihn zufliegen gar nicht mehr bedurft, um Aufmerksamkeit zu erregen. Die Farben Rot, Schwarz und Weiß wecken Assoziationen an die Fahnen der NSDAP. Besser könnte man auf den Inhalt nicht hinweisen.


Fazit
Bei der Bewertung tue ich mich schwer. Der erste Band kann sicher nicht für sich alleine stehen, dafür erfährt man zu wenig von Walter Gröger, der ja laut Klappentext die Hauptperson sein soll. Es werden Erwartungen geweckt, die bisher in keinster Weise erfüllt werden. Zudem gibt Roussety die kritische Distanz, der sie als Journalistin verpflichtet sein sollte, zugunsten einer hohen Emotionalisierung der Leser auf. Band 1 ist darüber hinaus nicht der große investigative Wurf, der in der Einleitung suggeriert wird. Ich bewerte diesen Band wie einen Einzeltitel, da mir aufgrund des noch nicht erschienenen, zweiten Bandes eine Gesamtbeurteilung nicht möglich ist.


2 Sterne


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Die Angabe der Seitenzahl bezieht sich auf das PDF-Dokument des Buches.

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