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Kategorie: Biografien

Dass er als Sohn einer jüdischen Mutter davonkommen würde, war unwahrscheinlich. Wie er dennoch davon kam, und das immer wieder, darüber legt Ralph Giordano Zeugnis ab - engagiert und kämpferisch wie eh und je. Hier wird ein Zeitalter besichtigt, widergespiegelt, in der Biographie von unerschöpflicher Kreativität. Wir werden Zeuge, wie der Schwur, Deutschland zu verlassen, allmählich dahin schmilzt und der Verfolgte von einst Anteilnahme empfindet für Menschen, die in den bedrohtesten Jahren seines Lebens auf der anderen Seite gestanden hatten. Und wie er hartnäckig um ein schwer erreichbares Ziel kämpft – Zugehörigkeit.

“Die Beschreibung der Jahre von 1933 bis 1945 ist der beklemmende, der heiße Kern dieser Erinnerungen, grandios und minutiös geschildert. Dass Giordano sich noch einmal den Strapazen des Erinnerns ausgesetzt hat, ist nun ein Glück für den Leser”
Volker Hage, Der Spiegel.

 

 

Autor: Ralph Giordano
Verlag: Kiepenheur & Witsch
Erschienen: 12/2008
ISBN: 978-3-462-04003-6
Seitenzahl: 553 Seiten


Stil und Sprache
Wer ist Ralph Giordano? Gewiss eine faszinierende Persönlichkeit, ein sperriger, ja ein unbequemer Mann. Seine "Erinnerungen eines Davongekommenen" machen dies mehr als deutlich. Aber gibt es auch noch einen anderen, einen, den die Öffentlichkeit so noch nicht kennt oder kennen will?

Nun mal der Reihe nach. Die Autobiographie ist in 7 Kapitel eingeteilt, beginnend mit der Schilderung seiner Geburt und endend mit einem Fazit seines bisherigen Lebens. Dazwischen breitet sich ein Leben aus, das so übervoll ist, dass es für mehrere reichen würde. Folgerichtig überschreibt Giordano 5 der 7 Kapitel auch mit “ … das erste Leben...”  usw. Fünf Leben, wie kann das sein? Nachdem er das erste Kapitel seinen Vorfahren gewidmet hat, schildern die beiden folgenden sein eigenes Leben bis 1945. Wer “die Bertinis” gelesen hat, wird hier vieles wiedererkennen, unter den Verfremdungen des Romans die wirklichen Ereignisse entdecken, die über behütende Mutter und den realitätsfernen Vater wiederfinden. Giordano selbst übernimmt schon sehr früh mit ca. 16 Jahren die volle Verantwortung für die Familie. Alle Mitglieder stützen sich auf ihn, was den jungen Mann heillos überfordert. Schon zu normalen Zeiten eine Last, wird es unter den Nazis und der ständigen Bedrohung durch die Gestapo zur schweren Bürde. Obwohl unausgesprochen, spürt man die ungeheure Wut auf den Vater, der seiner Pflicht als “Mann” der Familie nicht nachkommt. Zu diesem Zeitpunkt zeigt sich das, was der Autor die “große Kraft” nennt, zum ersten Mal, auch später noch wird sie ihm helfen Krisenzeiten zu bewältigen. Mit Kriegsende hat die Familie zwar überlebt, aber keineswegs unbeschadet. Vielleicht gilt für alle, was Giordano für sich selbst feststellen musste, nämlich dass der Nationalsozialismus nicht nur die Täter entmenschlicht hat, sondern auch deren Opfer. Er wird sein ganzes Leben darum ringen seine Menschlichkeit zurück zu gewinnen. Mit der Erkenntnis, dass die Humanitas unteilbar ist, schafft er dies. Er selbst allerdings hält sein Ziel erst viel später für erreicht, dann nämlich als er beim Besuch eines Soldatenfriedhofs Mitgefühl mit den gefallenen, jugendlichen Soldaten, die noch in letzter Minute verheizt wurden, empfindet. Zwischen dem Gestern und dem Heute liegt sein Beitritt zur KPD, seine Abrechnung und Abkehr vom Kommunismus stalinistischer Prägung das „dritte Leben“. Schonungslos rechnet er auch mit sich selbst ab, dem Angehörigen der “Internationale der Einäugigen”. Während er auf dem linken Auge blind war, sind es die meisten Deutschen in den Nachkriegsjahren auf dem rechten. Er findet den Begriff der “Zweiten Schuld” dafür und wird sein Leben lang gegen das Vergessen und die “Schwamm drüber“- Mentalität vieler Deutscher ankämpfen. Zwischen dem Gestern und dem Heute liegt auch eine Fernsehkarriere, die ihn, trotz Klaustrophobie, um die Welt führen wird; private Schicksalsschläge und eine späte Hinwendung zur Schriftstellerei (viertes und fünftes Leben).

Das Buch macht mich, was Aufbau und Stil betrifft, etwas ratlos. Giordano geht chronologisch vor, was aber seine Tücken hat, denn er verweist allzu oft auf Zukünftiges, besonders auffällig im 2. und 3. Kapitel. Manchmal möchte man ihm da zurufen “ Ist ja gut, ich habs kapiert”. Bis hierher schildert er sehr ausführlich Familiäres, danach “unterschlägt” er es fast, was ich sehr schade finde, habe ich doch Menschen kennen gelernt, deren Schicksal mir nahe gegangen ist, und denen ich wünsche, dass ihr weiteres Leben etwas leichter sein möge. Überhaupt scheint dies ein Problem des Autors zu sein, während er Landschaften und Landschafts-Stimmungen mühelos vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen lassen kann, und ein einzelnes Wort genügt, um nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören, schafft er dies bei zwischenmenschlichem Geschehen nicht wirklich. Selbst Begegnungen, die nicht durch schmerzhafte Erinnerungen belastet sind, und die ihn tief berührt haben, vermag er keine wirkliche emotionale Tiefe zu geben. Das Bemühen ist da, er möchte sich mitteilen, aber die Worte lassen sich nicht “formen”, sie gehorchen ihm nicht, oder zu gut, sie helfen ihm das innere Erleben zu verstecken. Scheinbar steckt er in einem Zwiespalt – einerseits sich dem Leser zu offenbaren und andererseits doch keine Einblicke zuzulassen. Wie sehr er seine erste Frau vermisst, das kann man nur erahnen, er spricht nicht darüber, deutet an und weicht doch wieder aus. Diese Haltung kann ich zwar sehr gut verstehen, erschwert aber das Lesen seiner Erinnerungen. Ich habe den Eindruck, dass er streckenweise in die bloße Zusammenfassung bereits erschienener Bücher flüchtet, nur um nicht zu viel von sich zu verraten. Und tut es dadurch doch. Er ist sensibler, verletzbarer als er es die Öffentlichkeit wissen lassen möchte. Da, wo er über seine Bücher spricht, ihre Entstehungsgeschichte etwa, da wirds wirklich langweilig und Durchhaltevermögen ist notwendig, da helfen auch kleine eingestreute Anekdoten und zugegeben Liebhabereien, wie z.B. zu den Wombats, nicht viel. Aber dennoch erreicht der “Glaubenslose Humanist”, wie er sich selbst nennt, sein Ziel, der Leser erkennt, dass es sich zwischen allen Stühlen immer noch bequemer sitzt, als lebenslang auf dem Falschen.


Aufmachung des Buches
Das Cover des Taschenbuches unterscheidet sich nicht vom Einband der gebundenen Ausgabe. Im dunklen Pullover und weißem Hemd schaut Giordano den Betrachter ernst, fast grimmig an. Bei längerer Betrachtung fühlt man sich regelrecht fixiert. Der starke Schlagschatten der Fotografie erhöht diesen Eindruck noch. Mit seinem Markenzeichen, der weißen Mähne, hebt er sich gut vom etwas helleren olivgrünen Hintergrund ab. Er scheint sich an seinen Namen, der senkrecht auf der linken Buchseite zu sehen ist, anzulehnen. Mitten drauf gepappt ist ein Aufkleber “SPIEGEL Bestseller”, ein Garant für gute Verkaufszahlen. Und der Aufkleber ist auch notwendig, denn der abweisend wirkende Blick Giordanos lädt nicht wirklich zum Kauf ein. In gewisser Weise wird der Leser aber dadurch schon mit seiner Person vertraut gemacht.


Fazit
Voyeure, die auf Skandale und Skandälchen hoffen, die werden von diesem Buch enttäuscht sein, aber allen, die Ralph Giordano näher kennen lernen möchten, sei dieses Buch empfohlen, obwohl ich hier nur Facetten seiner Persönlichkeit beleuchten konnte und trotz der beschriebenen Mängel. Persönlichkeiten wie er sind leider, nicht nur heutzutage, selten.


4 Sterne


Hinweise
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