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Fiona Maye, angesehene Richterin am High Court in London, bekannt für ihre Gewissenhaftigkeit. Mit ihrem Mann Jack, einem Geschichtsprofessor, ist sie seit mehr als dreißig Jahren verheiratet - harmonisch, wenn auch in letzter Zeit vielleicht etwas distanziert. So fällt Fiona aus allen Wolken, als er ihr eröffnet, dass er ihren Segen für eine außereheliche Affäre will. Genau in diesem Moment wird ihr ein eiliger Fall vorgelegt: Ein 17-jähriger Junge, der an Leukämie leidet, benötigt dringend eine Bluttransfusion. Aber seine Familie - Zeugen Jehovas - lehnt das aus religiösen Gründen ab. Genauso wie er selbst. Doch ohne Transfusion würde er qualvoll sterben. Fiona bleiben für ihr Urteil weniger als 24 Stunden. Kann sie jetzt, inmitten ihres emotionalen Tumults, ihre Professionalität bewahren?

 

Kindeswohl HB 

Originaltitel: The Chrildren Act
Autor: Ian McEwan
Übersetzer: Werner Schmitz
Sprecher: Eva Mattes
Verlag: Diogenes Hörbuch
Erschienen: 01/2015
ISBN: 978-3257803587
Spieldauer: 377 Minuten, 5 CDs; ungekürzte Lesung


Die Grundidee der Handlung
Die Gerichtsferien sind gerade zu Ende und in London herrscht nasskaltes Juni-Wetter. Die Familienrichterin Fiona Maye muss noch dringend an einem Urteil feilen, das bis morgen druckfertig sein muss. Es ist ein Fall, wie so viele am Familiengericht, an dem es "von seltsamen Meinungsverschiedenheiten, Berufungen auf Sonderfälle, vertraulichen Halbwahrheiten und bizarren Anschuldigungen“ nur so wimmelt. Doch ihr Ehemann Jack bittet sie genau in diesem Moment um die Erlaubnis für eine außereheliche Affäre. Fionas Haltung ist klar: Der richtige Augenblick, um eine offene Ehe vorzuschlagen war vor der Hochzeit, nicht 35 Jahre danach. Verlor sie gerade ihren Mann an eine junge Statistikerin, bloß weil er sich noch einmal jung fühlen wollte? Kaum hatte die Richterin sich diese Frage in Gedanken gestellt, holt sie das Telefon zurück in die Realität. Ein Eilantrag einer Klinik ist eingegangen. Der 17-jährige Adam Hendry brauche dringend eine Bluttransfusion, um nicht in den nächsten Tagen qualvoll an den Folgen einer seltenen Form der Leukämie zu sterben. Er selbst und die Eltern lehnten die Behandlung aus religiösen Gründen ab. Der britische Children Act eröffnet Fiona dennoch die Möglichkeit zur Prüfung: Zum einen, weil er unmissverständlich das "Kindeswohl" zur obersten Richtschnur der Entscheidung macht, zum anderen, weil es Vorschriften gibt, dass der Patient in der Lage sein müsse, die Tragweite und Auswirkungen seiner Entscheidung zu überblicken. Angesichts der gebotenen Eile besucht die Richterin den jungen Mann im Krankenhaus, wenige Stunden bevor sie ihr Urteil verkündet. Was sie nicht ahnt: Der Besuch und ihre Entscheidung werden nicht nur Adams Leben fundamental verändern...

Kindeswohl ist ein großartiger Stoff. Eine sehr kluge und scharfsinnige Mischung aus bekannten Elementen und ungewohnten Zutaten. Bekanntes Element ist die Ehe von zwei Partnern, die sich eher dem Karriere- als dem Eheglück verschrieben haben und irgendwie auch eher beiläufig merken, dass etwas fehlt. Bekannt ist auch, dass im Moment der Trennung alles hinterfragt wird. Neu - und ausgesprochen gut umgesetzt - ist, dass es für jeden der Partner andere Personen sind, die das Dilemma aufzeigen. Für Fionas Mann Jack ist es Melanie, die Statistikerin, von der er sich eine Wiederbelebung seines Sexuallebens erhofft, nur um dann im letzten Moment doch nicht mit ihr zu schlafen. Für Fiona ist es gleich in doppelter Hinsicht Adam. Schwer krank ist er gefangen zwischen religiösen Überzeugungen, die er noch nicht recht zu seinen machen konnte, einem unglaublichen Lebenswillen und jugendlicher Neugier. Die Tatsache, dass Adam und Fiona die Leidenschaft für Lyrik und klassische Musik teilen, macht es nicht einfacher. Fionas Dilemma stellt sie selbst im Rückblick auf einen anderen Fall einmal so dar: „Das Gericht hatte, im Namen der Kinder, zu entscheiden zwischen totaler Religion und einer leichten Abweichung davon, zwischen Kulturen, Identitäten, Gefühlslagen, Lebensentwürfen, Familienbeziehungen, fundamentalen Grundsätzen,  elementaren Loyalitäten und unabsehbaren künftigen Entwicklungen." Fionas Fälle sind mehr als einmal Drahtseilakt und Grenzgang und Adams Fall könnte Fionas Absturz werden...


Darstellung des Hörbuchs
Das Hörbuch wird gelesen von Eva Mattes. Ihre weiche und warme Stimme passt perfekt zu diesem Hörbuch. Auf stimmliche Veränderungen verzichtet sie nahezu vollständig und dennoch gelingt es ihr beinahe in jeder Sekunde, die Stimmung dieses Buches einzufangen. Die Hochstimmung zu Beginn dieses Buches angesichts des beruflichen Erfolges beider Ehepartner, die Schockstarre nach Jacks Bitte, die nur durch den Telefonanruf unterbrochen wird, Fionas Professionalität im Gerichtssaal, die ehrliche Beklemmung an Adams Krankenhausbett und das langsame Abbröckeln aller Fassaden. Großartig. Auch McEwan macht die Kontraste geschickt deutlich: Wann immer eine Situation unerträglich wird, biegt er für einen Moment ab in die Lyrik oder Musik. Kunst als Balsam oder Fluchtpunkt für die reale, grausame Welt. Wunderbar umgesetzt von beiden. Ebenfalls klar erkennbar: der Wendepunkt. Der Besuch am Krankenbett. Ließen sich die Probleme mit Jack für Fiona noch mit Geschick verheimlichen, so fällt es ihr hier schwer, Professionalität zu wahren und aus der Richterin, die alle um die "klare, beinahe ironische, beinahe warmherzige Prosa  und Knappheit, mit der sie einen Streitfall dazulegen vermochte" beneideten und die wie der Lord Oberrichter einmal sagte:" „göttliche Distanz, teuflische Klugheit" besaß "und dabei immer schön" war, wird plötzlich ein Mensch mit Schwächen. Das Motiv wird dadurch überzeugender, dass es nicht bei diesem Moment bleibt, sondern ein Prozess in Fiona ausgelöst wird. Vielleicht wird sie zum ersten Mal in ihrer Karriere nicht in der Lage sein, durch ihren Beruf "Rationalität in aussichtslose Situationen" hineinzubringen, weder in die der Prozessparteien noch ihre eigene in der Ehe. Dieses Hörbuch spielt mit Fassaden und menschlichen Eigenschaften, ohne die Menschlichkeit gegenüber den Protagonisten zu verlieren. Die Stärken dieses Hörbuchs setzt die Sprecherin auch in der Lesung um. Nach und nach wird aus der selbstbewussten Stimme Fionas die Stimme einer Frau gefangen zwischen tiefen, echten Emotionen gegenüber zwei Menschen, menschlicher Güte und richterlicher Distanz. Frau Mattes liest sowohl die selbstbewussten Passagen als auch die von Gefühlen - manchmal könnte man auch an Selbstzweifel Fionas denken - geprägten Passagen stets passend. Gerade in diesen Passagen ist es ihre leise, vorsichtig zurückhaltende Stimme, die das Gefühl für den Hörer verstärkt. Ein besonderes Kompliment verdient die Sprecherin auch dafür, dass sie eine der Grundüberzeugungen Fionas beeindruckend transportiert. Es ist eine Lesung, die liebevoll, warmherzig und gütig gegenüber allen Personen bleibt.  Schließlich war laut Fiona "Güte, das zeigte sich tagtäglich im Familiengericht, (...) das entscheidende menschliche Merkmal."


Aufmachung des Hörbuchs
Das Hörbuch wird wie alle Produktionen des Verlagshauses in einer Klappdeckelschachtel zum Aufklappen geliefert. Das Cover-Motiv, das sich auch auf dem Booklet und auf den Pappen, die die CDs schützen, wiederfindet, zeigt das Gemälde eines jungen Mannes an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sein Blick wirkt traurig und leer. Im Booklet selbst finden sich zunächst kurze, bebilderte Biografien des Autors und der Sprecherin. Dann folgen alle notwendigen bibliografischen Angaben. Die vierte Seite ist der juristischen Kernfrage dieses Romans vorbehalten, dem ersten Abschnitt des ersten Artikels des britischen Children Act von 1989. Abschließend folgen die Aufteilung der Buchteile auf CD, die Danksagung de Autoren zum vorliegenden Roman und der Hinweis auf weitere Hörbücher des Autoren bei Diogenes. Eine gewohnt ruhige Aufmachung.


Fazit
Dieses Hörbuch einzuordnen fällt schwer. Thematisch irgendwo zwischen Justizthriller und Persönlichkeitsstudie, eine Protagonistin gefangen zwischen Allmacht und Ohnmacht zwischen Prozessakten und Menschlichkeit. Dieses Hörbuch ist fesselnd und beklemmend zugleich, weil es das ganze Dilemma und gleichzeitig die zwingende Notwendigkeit von Menschlichkeit aufzeigt. Unbedingt empfehlenswert.

5 Sterne


Hinweise
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