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April bedeutet das Ende des Winters. Lebensfreudige Hoffnung, Seelenwärme. Für Phoebe ist April jedoch viel mehr als nur ein Monat: Es ist der Name ihrer großen Schwester, dem Zentrum ihrer kleinen Welt. Doch nun ist April fort. Sie ist weggesperrt in eine Klinik und soll dort gesund werden, doch sie isst nicht mehr. Warum? Wann wie sie endlich wieder nach Hause kommen? Phoebe hat tausend Fragen. Aber ihre Eltern schweigen hilflos. Und so hat Phoebe keine Möglichkeit, zu begreifen, was ihrer großen Schwester fehlt. Doch sie versteht, wie unendlich traurig April ist. Und um dem Schweigen eine Stimme zu geben, schreibt Phoebe ihrer Schwester Briefe. Wort für Wort in die Stille hinein und entgegen der Leere, die April hinterlassen hat.

 

 Was fehlt wenn ich verschwunden bin


Autor: Lilly Lindner
Verlag: Fischer
Erschienen: 02/2015
ISBN: 978-3-7335-0093-1
Seitenzahl: 400 Seiten

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Die Grundidee der Handlung
Die 9-Jährige Phoebe schreibt Briefe an ihre große Schwester April, die in einer Klinik liegt. Denn April ist schwer an der heimtückischen Krankheit Magersucht erkrankt. Seit Jahren schon isst sie so gut wie nichts mehr, steht den zornigen Blicken und den anklagenden Worten ihrer Mutter nur still gegenüber – denn zu sagen hat sie schon lange nichts mehr. Einzig Phoebe versteht sie und das besondere Band zwischen den Schwestern wird in vielen Briefen und Erzählungen ganz besonders deutlich. Ein Band, das die Eltern nicht begreifen können – oder vielleicht nicht wollen?

Mit feinfühligen, sanften und doch traurigen Worten hat Lilly Lindner mit Was fehlt, wenn ich verschwunden bin geschrieben und damit einen unglaublich anrührenden Roman verfasst.


Stil und Sprache
Der Roman zeigt die sowohl traurige als auch wütend machende Geschichte der 16-Jährigen April, die schon früh in ihrem Leben mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass ihre Eltern mit ihr hoffnungslos überfordert sind. Das Gefühl von Geborgenheit, das Vermitteln von elterlicher Liebe durch Worte und Taten hat sie nie gespürt oder gezeigt bekommen. Gesagt schon gar nicht. April ist hochintelligent, für ihr Alter unglaublich frühreif (was die geistige Denkweise angeht), und sie spricht eine Sprache, die die Eltern nicht verstehen. Und auch gar nicht versuchen. Ihre Überlegungen werden als blanker Unfug abgetan und die Mutter reagiert mit Entsetzen und Unverständnis, wenn ihre Tochter nicht wie andere Kinder auf dem Spielplatz im Sand Burgen bauen will, oder später auf die so beliebten Teenager-Partys gehen mag. Doch statt dass die Eltern ihrem Kind ihre bedingungslose Liebe zeigen und ihr damit Halt geben – egal was sie sagt, denkt oder tut -, reagieren diese mit Eiseskälte, Vorwürfen und Ablehnung. Und so muss April schon mit fünf bitter lernen, dass sie in diesem Leben keinen Platz hat. Der Anfang vom Ende, denn still und leise beginnt sie, Stück für Stück immer mehr zu verschwinden.

In der ersten Hälfte des Buches zeigen die liebevollen und mit tausend Fragen und Überlegungen versehenen Briefe von der 9-Jährigen Phoebe, wie der Alltag in der Familie aussieht, seit die große Schwester in der Klinik ist. Doch dieser Tonfall kann nicht über die dahinterliegende Tragik hinwegtäuschen. Von Seite zu Seite wird deutlicher, was Aprils schreckliche Krankheit mit der Familie macht, welches Leid bei allen entsteht und wie sich diese verändert. Magersucht ist kein einfaches Thema. Weder für die Betroffenen und ihre Familien, noch für diejenigen, die darüber schreiben. Und doch hat die Autorin es geschafft, sich auf sensible und besonnene Art damit auseinanderzusetzen. Da wird klar, dass auf beiden Seiten Hilflosigkeit und Verzweiflung herrscht. Bei den Eltern, weil sie ihr Kind nicht zum Essen zwingen können, so sehr sie es auch versuchen. Bei April, weil sie ihren Eltern sagen kann, was sie will, sie hören nicht hin. Und dabei gibt sie doch klar zu verstehen, warum sie krank wurde, was mit ihr passiert und das es nur einen Weg gibt, da wieder rauszukommen – die Liebe der Eltern und ihrer kleinen Schwester.

Ab der zweiten Hälfte ändert sich dann die Tonlage. Der Leser taucht in eine Gefühlswelt ein, in der die Stille nur so dröhnt. Denn April hat zwar einiges zu sagen, doch sie macht es leise – durch ihre Antwortbriefe an Phoebe. Briefe, die von einer unfassbaren Leidensgeschichte erzählen, von einem schrecklichen Erlebnis in frühester Kindheit, von dem Begreifen, dass sie unerwünscht und ungeliebt ist, der Tatsache, dass ihre herrliche Fantasie von den Eltern totgeredet wurde und einem so immens großen Schmerz, der alles erdrückt. Und an diesem Punkt ist der Moment, wo der Leser anfängt, sich über die eine oder andere Figur aufzuregen. Besonders eine Stelle ist besonders hart und es gefriert einem das Herz während des Lesens. Da macht nämlich die Mutter mehr als deutlich, dass die verhasste Tochter auf sich allein gestellt ist und genau damit entzieht sie der Tochter das letzte Stück Boden, das diese noch im Leben gehalten hat.

Gegen Ende des Romans kommt eine absolut zerstörerische Wahrheit ans Licht, und im Leser entsteht ein schrecklicher Verdacht. Es ist nur eine Andeutung in einem Satz, den April an Phoebe schreibt, aber er reicht aus, um viele Dinge im Roman plötzlich klar werden zu lassen.


Figuren
Lilly Lindner gibt keine großen Beschreibungen ihrer Figuren. Den einen oder anderen Hinweis auf Augen- oder Haarfarbe gibt es, doch den Rest überlässt sie der Leserfantasie. Dadurch kommt eine leichte Dynamik in die Geschichte, die das Leben und Agieren der Charaktere nicht unbedingt einfacher macht. Da gibt es Passagen, wo man die Mutter am liebsten an die Wand werfen möchte, ob deren eiskaltem und unsinnigen Verhalten gegenüber ihren Kindern. Da wird gebrüllt, sich zurückgezogen, mit Arbeit eingedeckt und gekocht wie verrückt. Verzweiflung wird jedem Gegenüber zum Ausdruck gebracht, nur dem Kind, das die bedingungslose Liebe der Eltern mehr als alles andere bräuchte, um wieder gesund zu werden, diesem gegenüber zeigen Mutter und Vater absolute Funkstille. Der Schmerz, der da tobt, wird still in sich hineingefressen, statt ihn nach außen zu bringen. Das Ergebnis: Eltern, die sich vor ihren zwei Töchtern fürchten, anstatt das Wunder des Lebens in diesen beiden, von ihnen geschaffenen Wesen, zu sehen und darüber zu staunen, was diese zwei Töchter für eine große Gabe haben. Mit Worten umgehen kann nicht jeder, sie richtig gebrauchen und zu deuten, dieses Glück ist noch weniger Menschen gegeben. Hier scheint es eher so, als ob zwei Kinder als Mittel zum Zweck geboren wurden, aber mehr auch nicht. April und Phoebe haben nur sich, als Schwesternpaar sind sie unschlagbar. Auch wenn die Jüngere unbestreitbar die Stärkere der beiden ist, sie macht genau das, was der Rest der Familie nicht kann: Sie liebt bedingungslos.

Die Autorin schafft es mit wenigen Worten zum Teil erschreckende Charaktere zu zeichnen, bringt auf die unterschiedlichste Weise Leben in ihre Figuren, zeigt Schwächen, Ängste, Wünsche und Hoffnungen und verbindet all das mit einer aufwühlenden Handlung.


Aufmachung des Buches
Eine Klappenbroschur, dass schlicht und dezent, aber doch auch auffällig gestaltet ist. Blau und Weiß sind so kombiniert, dass ein harmonisches Gesamtbild entsteht. Viele weiße Vögel bilden das Wort „Ich“ in Großbuchstaben und sind über das gesamte Buch verteilt. Hält man den Roman etwas schräg, glänzen die weißen Stellen matt auf. Auf der Rückseite des Buches steht ein Satz aus dem Roman. Hier wurde das weniger-ist-mehr Prinzip erfolgreich angewendet.


Fazit
Ein wortgewaltiges und wunderschön geschriebenes Buch über das Leben mit einer teuflischen Krankheit und das, was Kinder für Eltern eigentlich sein sollten: Magie, Staunen und ein selbst erschaffenes Wunderwerk der Gene. Am Ende lässt einen der Roman in Tränen aufgelöst, fassungslos, traurig und sehr aufgewühlt zurück.


5 Sterne

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