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Paul O’Rourke ist Zahnarzt mit einer gutgehenden Praxis an der Park Avenue in Manhattan. Er liebt das Leben, auch wenn er vielleicht nicht besonders viel damit anzufangen weiß. Doch dann tritt plötzlich ein Fremder im Internet unter O’Rourkes Namen und Beruf auf und bedroht fundamental dessen Identität – nicht nur in den virtuellen Tiefen des Internets, sondern auch im ganz realen Leben.

 

Mein fremdes Leben 

Originaltitel: To Rise Again at a Decent Hour
Autor: Joshua Ferris
Übersetzer: Marcus Ingendaay
Verlag: Luchterhand Literaturverlag
Erschienen: September 2014
ISBN: 978-3-630-87450-0
Seitenzahl: 384 Seiten

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Die Grundidee der Handlung
Paul O´Rourke, Zahnarzt und Atheist, wohlhabend und sozial abwesend, befindet sich auf der Sinnsuche des Lebens. In seiner knapp bemessenen Freizeit versucht er es mit Golf, Fitness oder Spanisch, aber im Grunde ist er nur mit sich selbst zufrieden. Seinen inneren Frieden findet er nur bei den Red Sox, nimmt seit Jahren jedes Spiel auf und archiviert es. Mit Mitte Dreißig ist er endgültig vom Leben enttäuscht und meidet das gesellschaftliche Leben ebenso wie die sozialen Medien. Er weigert sich, für seine Praxis eine Homepage zu erstellen und nennt sein Smartphone konsequent „Ich-Maschine“. Eine schöne Metapher für die Suche nach dem Ich, welches man eigentlich nicht finden möchte.

Das Leben O´Rourkes verläuft ohne große Einschnitte in frustrierenden Bahnen mit depressiven Abschnitten und Selbstmotivation – bis ein Fremder sich seiner Identität angenommen und ihn in die digitale Welt mitnimmt. Denn der hat in seinem Namen eine Homepage erstellt, eine Facebookseite angelegt und einen Twitteraccount eröffnet und mit religiösen Inhalten gefüllt.

Joshua Ferris widmet sich in seinem dritten Roman wieder der Psyche des Individuums. Auch hier, wie in seinem Vorgängerroman „Ins Freie“, nutzt er eine Zwanghaftigkeit, die Menschen innerhalb eines geregelten Lebens befallen kann und das weitere Leben bestimmen. In „Mein fremdes Leben“ verfällt der Atheist Paul O`Rourke einer alten Religion und begibt sich auf Spurensuche.


Stil und Sprache
Der erzählende Antiheld Paul O´Rourke ist über die Entdeckung des eigenen Ichs in einer Welt, die er versucht zu vermeiden, nur anfänglich erschreckt. Fasziniert von seiner neuen Homepage, den Beiträgen in seinem Namen bei Facebook und Twitter, entwickelt sich eine Art Zwang, mit dem falschen Paul O´Rourke in Verbindung zu treten. Zunächst schreibt er ihm per Email ein paar Zeilen mit der Bitte um Löschung der Homepage, dann mit den üblichen Anwaltsdrohungen. Aber der falsche Paul reagiert nicht auf seine Emails, nur die Beiträge der Homepage ändern sich, nehmen immer religiösere Züge an, ebenso bei Facebook und Twitter. Nach anfänglichem Unverständnis und Ärger entspinnen sich zuerst kryptische, später auch amüsante Dialoge mit religiösen Anspielungen per Email zwischen dem falschen und dem echten Paul O´Rourke.

Weitschweifig erzählt der Protagonist von seinem bisherigen Leben, von seinen Verflossenen und deren Familie, seinem Wunsch, immer alles richtig zu machen und seiner Arbeit in der Zahnarztpraxis. Wenn er sich in die Betrachtungen seines depressiven Lebens verliert, wird das Buch streckenweise ermüdend. Auch der Anblick in die Münder seiner Patienten mit den verfaulten Zähnen und deren Wünschen, ein tadelloses, strahlendweißes Gebiss zu haben, ist gelegentlich zäh. Dennoch hat Joshua Ferris auch hier eine Metapher für die Depressionen seines Protagonisten gefunden. Die Zähne werden gebleacht, mit Bondings und Veneers versehen, sodass der Verfall aufgehalten zu sein scheint. Genauso wie das eigene unzufriedene Leben mit einem Provisorium oder dem Deckmantel des Wohlbehagens manipuliert wird.

Anders als auf der Rückseite des Buches und auch im Klappentext geht es in dem Roman weniger um eine Identitätsübernahme in der Social Media Welt mit all seinen Tücken, sondern um Selbsterkenntnis, um das Herausfinden, warum ihm seine Identität gestohlen wird und nicht, wer sie gestohlen hat.


Figuren
Joshua Ferris konzentriert sich bei der Figurenentwicklung nur auf seinen Protagonisten. Paul O´Rourke widmet er die üblichen Facetten eines normalen Lebens: Der Zahnarzt ist Mitte dreißig und müsste mit sich und seinem Leben zufrieden sein. Seine Praxis liegt in Manhattan, zu seinen Patienten gehören Manager, Rechtsanwälte und deren Ehefrauen, er steht auf die Red Sox und hat nicht mehr merkwürdige sexuelle Bedürfnisse als andere auch. Ein vollkommen normales Leben, wenn ihm nicht seine Sinnsuche in eine Identitätskrise stürzen würde und er zu gern auf die religiösen Beiträge seines Gegenspielers antwortet. Das Abenteuer der Spurensuche nach der wahren Erkenntnis beginnt und Paul weiß dem nichts entgegenzusetzen. Zwischen dem echten und dem falschen Paul entspinnt sich eine ambivalente Beziehung.

Seine Mitarbeiterinnen Betsy und Connie, die eine gläubige Christin, die andere Jüdin, sind reine Nebenfiguren und glänzen mit kirchlichem Wissen. Sie erläutern ihm die religiösen Beiträge des falschen Pauls, sodass Paul beide abwechselnd verdächtigt, die Homepage erstellt, in seinem Namen einen Facebook und Twitter Account angelegt zu haben und die religiösen Beiträge zu verfassen.
Ex-Freundinnen und deren Familien samt ihren Religionen tauchen in den vielen Rückblenden auf und verschwinden wieder.

Der Gegenspieler, der falsche Paul, kennt sich mit Pauls Leben und Religion besser aus als dieser selbst. Nach und nach schält sich die wahre Konfession Pauls heraus und führt ihn auf die andere Seite der Erdkugel und den Leser in eine andere Welt der Religion.


Aufmachung des Buches
Das Buch ist fest gebunden und mit einem Schutzumschlag versehen. Auf dem Cover grüßt ein feststehendes Fernrohr für Touristen freundlich mit seinen Kulleraugen und erinnert sowohl an einen Alien, als auch an eine Überwachungskamera. Im Hintergrund erscheint unscharf das Empire State Building. Aufgeteilt ist das Buch in zehn großzügige Kapitel.


Fazit
Der Zwang nach der Suche einer Religion, obwohl sich O`Rourke als Atheist glaubt, schwebt über dem ganzen Roman. Ferris Protagonist hat keine Macht über seinen Glauben, noch weiß er die Entdeckung seiner neuen Religion zu deuten. Weder O´Rourke kann die Geschichte seines Lebens deuten, noch sollte der Leser versuchen, eine Interpretation in die Geschichte hineinzudeuten. Die Undeutbarkeit, die in Ferris Romanen bisher sein stärkstes Element war, löst in dem Leser Ratlosigkeit und Verwirrung aus. Mein fremdes Leben überzeugt nur zum Teil.


3 Sterne


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