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Die Zeit vergeht, aber sie heilt nicht alle Wunden, vor allem wenn ein Verbrechen geschehen ist. Daniel Woodrell steigt in seinem neuen Roman hinab in die versehrte amerikanische Seele des 20. Jahrhunderts. Ein Buch über eine Frau, die für Gerechtigkeit kämpft – und dafür einen hohen Preis zahlt.

 

In Almas Augen 

Originaltitel: The Maid’s Version
Autor: Daniel Woodrell
Übersetzer: Peter Torberg
Verlag: Liebeskind
Erschienen: 10. Februar 2014
ISBN: 978-3-954380213
Seitenzahl: 192 Seiten

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Die Grundidee der Handlung
Missouri, im Sommer 1929. Bei einer sommerlichen Tanzveranstaltung ereignet sich in einem kleinen Nest im Hinterland der USA eine unfassbare Katastrophe. Infolge einer gewaltigen Explosion in der Arbor Dance Hall kommen 42 Menschen ums Leben und viele Schwerverletzte bleiben ihr Leben lang gezeichnet. Obwohl viele Gerüchte über die rätselhafte Tragödie kursieren, werden die wahren Hintergründe für den Brand nie aufgeklärt, die Ermittlungen verlaufen bald im Sande und man einigt sich schließlich auf einen Unfall als Ursache. 
Nur die Dienstmagd Alma DeGeer Dunahew, deren schöne, verführerische Schwester Ruby ebenfalls in den Flammen umkam, lassen die Ereignisse jenes Sommers all die Jahre nicht mehr los, denn sie will nicht an einen tragischen Unglücksfall glauben und möchte das offensichtliche Verbrechen aufgeklärt sehen. Durch ihre unerwünschte, hartnäckige Wahrheitssuche bringt Alma sich und ihre Kinder immer mehr ins gesellschaftliche Abseits, wird arbeitslos und als Verrückte weggesperrt. Erst vierzig Jahre später wird sie ihrem Enkel Alek enthüllen, was sich in ihren Augen in jener Sommernacht wirklich zugetragen hat. 

Als ein großartiger Erzähler erweist sich der amerikanische Autor Daniel Woodrell auch in seinem herausragenden neuen Roman, für den er verdientermaßen im Juli den renommierten Literaturpreis Chicago Tribune Heartland Prize 2014 in der Kategorie „Fiction“ erhalten hat.


Stil und Sprache
Im Mittelpunkt des Romans steht die unaufgeklärte Brandkatastrophe während einer Tanzveranstaltung 1929 in der Arbor Dance Hall in dem fiktiven Kleinstädtchen West Table, das im Hinterland Missouris gelegen ist. Die Ereignisse werden nicht chronologisch und aus immer wieder wechselnden Perspektiven erzählt. So lässt der Autor den Roman im Jahre 1965 mit Almas 12-jährigen Enkel Alek beginnen, der als Ich-Erzähler über die Tragödie berichtet, wie er sie von seiner alten, recht sonderlichen Großmutter erstmals erfahren hat - "eine aufregende Geschichte mit Feuer, vielen Toten, vielen Verdächtigen und wenigen Fakten, ein großes Verbrechen oder ungeheures Missgeschick, ein nicht enden wollendes Rätsel, das sie gelöst zu haben glaubte" (S. 13).
Äußerst raffiniert hat Daniel Woodrell seine faszinierende Geschichte angelegt. Literarischen Indizien gleich präsentiert er in seinem Roman zunächst unwichtig erscheinende Episoden, die um die Katastrophe, die damaligen Opfer und ihre Hinterbliebenen kreisen, portraitiert sehr einfühlsam Bürger des Ortes und wirft Schlaglichter auf interessante Facetten und aufschlussreiche Fakten. Hierbei bleibt er ein völlig neutraler Erzähler und überlässt es komplett dem Leser nach und nach die richtigen Schlüsse aus den zusammengetragenen Einzelheiten zu ziehen und den rätselhaften Vorgängen auf die Spur zu kommen. Bis zum überraschenden Ende ist es ihm auf geniale Weise gelungen die Spannung auf einem hohen Niveau zu halten.

Woodrell versteht es meisterlich, die verschiedenen Schicksalsfäden allmählich zusammenlaufen zu lassen und die vielen kleinen Details zu einer bewegenden Geschichte zu verdichten bis schließlich die bittere Wahrheit zu Tage tritt. Mit wenigen präzisen Worten entwirft er ein atmosphärisch dichtes und sehr realistisches Bild vom Leben und Treiben der Bürger und dem eigentümlichen Mikrokosmos jener Kleinstadt, den sozialen Hierarchien jener Epoche und erlaubt dem Leser darüber hinaus einen sehr verstörenden Einblick in die unfassbaren Abgründe der menschlichen Seele.
Beeindruckend ist auch Woodrells scheinbar unspektakuläre, aber äußerst feine und prägnante Sprache. Sein einfühlsamer, ausdrucksstarker Erzählstil, der durch eine beachtliche Klarheit und enorme Aussagekraft besticht, lässt den Leser in die bedrückende Erzählung abtauchen und die damalige Tragödie hautnah miterleben.


Figuren
Herausragend sind auch Woodrells sehr einfühlsam und glaubwürdig gezeichnete Figuren, die trotz ihrer Vielzahl mit einem tiefgründigen und faszinierenden Eigenleben ausgestattet sind und geschickt mit der Erzählung verwoben sind. Sie alle geben einen äußerst aufschlussreichen Einblick in die damalige Gesellschaftsstruktur, die geprägt ist vom Unterschied zwischen Arm und Reich, und vermitteln ein lebendiges Bild des Alltagslebens in dieser rückständigen Kleinstadt vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise. Facettenreich portraitiert Woodrell die Menschen dieser eingeschworenen hierarchischen Gesellschaft mit all ihren Ängsten, Verlogenheiten, Intrigen und Scheinheiligkeiten, und beleuchtet dabei aber auch schonungslos Alkoholismus, Armut und Hoffnungslosigkeit der gescheiterten Existenzen der weniger Privilegierten, die sich am Rande dieses Systems befinden. Geschickt entsagt sich der Autor hier jeglicher moralischer Wertung.

Mit Alma rückt Woodrell eine äußerst bemerkenswerte Figur in den Mittelpunkt seiner Geschichte, deren Leben auch als eine der großen Verliererinnen dieser Katastrophe tief beeindruckt, und mit der man als Leser mitfühlen und mitleiden muss. Ihr unerschütterlicher Kampf um die Wahrheit und ihre mutige Auflehnung gegen die scheinheilige Gemeinschaft, in der Gewissheit, dass hier ein Verbrechen vertuscht werden soll, verdient trotz aller Chancenlosigkeit Respekt. Almas sozialer Absturz und psychischer Zusammenbruch, der um der lieben Ordnung willen im Ort in Kauf genommen wurde, sowie das tragische Schicksal ihrer Familie in den nachfolgenden 40 Jahren sind sehr bewegend geschildert und machen betroffen.


Aufmachung des Buches
Das in einem warmen Orangeton gebundene Buch ist mit einem ansprechend gestalteten Schutzumschlag aus seidenmattem Papier versehen. Der ebenfalls orange-farbene Buchtitel hebt sich von der eher schlicht gehaltenen Vorderseite des Covers ab. Passend zum Inhalt des historischen Romans wurde als Motiv eine etwas unscharfe und verwackelte Schwarz-Weiß-Fotografie ausgewählt – ein Schnappschuss aus längst vergangenen Tagen von mehreren, tanzenden Paaren auf einer Tanzveranstaltung.


Fazit
Daniel Woodrell ist ein meisterlich komponierter, äußerst fesselnder Roman mit beeindruckender Klarheit und Aussagekraft gelungen. Sehr einfühlsam und in vielen facettenreichen Episoden erzählt er über eine fatale Brandkatastrophe Ende der 1920er Jahre und entwirft ein lebendiges Sittengemälde einer Kleinstadt im amerikanischen Hinterland. 

Eine grandiose und bewegende Erzählung, die trotz geringer Seitenzahl nachhaltig in Erinnerung bleibt und äußerst lesenswert ist.


5 Sterne


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