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Am Anfang war ein leeres Zimmer, ein bisschen Licht, ein bisschen Zeit. Ich sagte: „Ich werde Felder machen“, und ich machte sie aus Teppichbodenstücken und braunem Cord. Dann machte ich Flüsse aus Krepppapier und glänzender Alufolie und Berge aus Pappmaché und Rinde. Und ich betrachtete die Felder, die Flüsse und die Berge, und ich sah, dass sie gut waren.

Die zehnjährige Judith ist einsam und sucht Trost in ihrer Fantasiewelt. Doch unmerklich nimmt diese immer mehr Raum in ihrem Leben ein …

 

Wo Milch und Honig fliessen 

Originaltitel: The Land of Decoration
Autor: Grace McCleen
Übersetzer: Barbara Heller
Verlag: DVA
Erschienen: 03/2013
ISBN: 978-3421045461
Seitenzahl: 384 Seiten

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Die Grundidee der Handlung
Die zehnjährige Judith lebt allein mit ihrem strenggläubigen Vater und begleitet ihn auf seinen Missionierungstouren für die Zeugen Jehovas. Ihre Mutter hat sie nie gekannt, in der Schule wird sie wegen ihres Glaubens ausgegrenzt und gemobbt, ihr Vater ist eher ein strenger Lehrer als ein liebevoller Vater. In ihrer Not hat sie sich in ihrem Zimmer eine eigene Welt gebastelt, das „Land der Zierde“. Als der größte Rüpel in ihrer Klasse ihr droht, am Montag ihren Kopf in die Toilette zu stecken, sieht sie keinen Ausweg mehr. Ihre einzige Chance besteht in einem Schneesturm und der Hoffnung, dass die Schule dann geschlossen bleibt. Und das Wunder geschieht: Es schneit. Judith ist sofort klar, dass sie offenbar in der Lage ist, Dinge geschehen zu lassen, und versucht nun, ihren Peiniger loszuwerden und ihren Vater von ihren Fähigkeiten zu überzeugen. Beides geht allerdings komplett daneben …

Die Grundidee zu dieser herzzerreißenden Geschichte über ein kleines Mädchen und die Macht von Mobbing und Ausgrenzung überzeugt auf ganzer Linie, allerdings ist mir die starke Konzentration auf Glauben und Religion zwischendurch etwas zu viel geworden. Andererseits hätte die Story ohne das Thema Religion nicht funktioniert, daher muss man das wohl in Kauf nehmen.


Stil und Sprache
Grace McCleen erzählt ausschließlich aus Judiths Sicht als Ich-Erzählerin. Dabei gelingt ihr der Spagat zwischen kindlicher Sichtweise und trotzdem nicht kindischer Sprache hervorragend. Judith ist immer überzeugend, dabei manchmal so altklug, dass man meint, über eine erwachsene Frau zu lesen, dann wieder kommen ihre kindertypischen Ängste hoch und man merkt verblüfft, dass sie ja doch noch ein kleines Mädchen ist. Von Anfang an ist man dabei in Judiths Welt, leidet mit ihr und würde ihr am liebsten beistehen. Ein Nachteil der jugendlichen Sichtweise Judiths ist allerdings, dass alle Geschehnisse, die sich nicht in ihrem unmittelbaren Umfeld abspielen oder deren Hintergrund sie nicht versteht, nur bruchstückhaft wiedergegeben werden und man sich etwa die Geschichte um Judiths Vater ein bisschen selbst zusammenreimen muss.

Sprachlich orientiert sich Grace McCleen – wie schon erwähnt – am Alter ihrer Protagonistin und entsprechend einfach ist die verwendete Sprache meistens auch. Es gibt jedoch einige zwischen die eigentliche Handlung gesetzte Kapitel, in denen Judith ihren Gedanken freien Lauf lässt, dort ist die Sprache eine ganz andere, viel poetischer, bildhafter. Ja, und dann gibt es noch die Szenen, in denen Judith Zwiesprache mit Gott hält. Schwierig, weil Glaube eine sehr intime, persönliche Sache ist und solche „Gespräche“ schnell platt und aufgesetzt wirken. Leider konnte die Autorin zumindest mich an diesen Stellen nicht überzeugen, mir war das einfach zu viel „Sei stark im Glauben, dann wird Gott alles richten.“.


Figuren
Aus der Erzählperspektive ergibt sich logischerweise, dass Judith und ihre Gefühlswelt im Mittelpunkt der Geschichte stehen. Sie ist zwar erst zehn Jahre alt, hat aber trotzdem schon ihre eigenen Ansichten. Mit dem Glauben, den endlosen Bibelsitzungen und den Versammlungen der Gemeinde ist sie aufgewachsen und kennt kein anderes Leben. Wie sie im Laufe der Geschichte ihren Glauben verändert, ihren Zweifeln Ausdruck verleiht und ihr Schicksal zunehmend selbst in die Hand nimmt, das ist schon sehr beeindruckend und lässt einen auch nach dem furiosen Ende nachdenklich zurück.

Praktisch alle anderen Figuren sind Randerscheinungen, sogar Judiths Vater bleibt ihr – und damit auch dem Leser – fremd. Er ist so ein bisschen die graue Eminenz in Judiths Leben, sie vertraut ihm zwar, ist aber davon überzeugt, dass er sie nicht versteht und auch nicht liebt. Schließlich hat er bei ihrer Geburt seine Frau verloren und damit auch mehr oder weniger seinen Lebenssinn. Seine Gefühle und Gedanken bleiben im Dunkeln und man versteht erst recht spät, warum er so handelt, wie er es tut. Seine – zumindest zu Beginn – tiefe Verwurzelung im Glauben erscheint dem nicht über die Zeugen Jehovas informierten Leser lebensfremd und manchmal regelrecht abstrus, man kann sein Verhalten kaum nachvollziehen. So hat Judith immer das Gefühl, allein zu sein auf der Welt. Warum die anderen Kinder sie nicht mögen, hinterfragt sie gar nicht, sondern fügt sich ergeben in die Rolle des Opfers, so dass die Quälereien immer schlimmer werden. Als dann ihr Vater als Streikbrecher in der Firma geächtet wird und auch er Drohungen und Drangsalierungen hinnehmen muss, sieht Judith ihre Welt endgültig zerbrechen.

Die einzige Hoffnung für Judith ist ihre neue Lehrerin, die sofort durchschaut, was in der Klasse vor sich geht und alles daransetzt, Judith zu helfen. Aber auch sie bleibt dem Leser fremd, denn Judith lernt sie ebenfalls nicht wirklich kennen. Erst ganz zum Schluss, als wirklich gar nichts mehr geht, schafft es schließlich Judiths Vater, mit ein paar kleinen, aber tiefgreifenden Veränderungen näher an seine Tochter zu gelangen. So hat man am Ende der Geschichte dann doch noch das Gefühl, dass alles gut ausgehen wird.


Aufmachung des Buches
Das gebundene Buch hat ein cremeweißes Cover, auf dem der in schwarzer Schnörkelschrift geschriebene Titel den meisten Raum einnimmt. Auf dem „H“ des Wortes Honig balanciert ein Mädchen, außerdem sieht man noch einige „Zutaten“ für Judiths Bastelwelt, die ebenfalls silhouettenhaft in Rot abgebildet sind. Ein rotes Lesebändchen vervollständigt die edle Aufmachung. Innen ist das Buch in fünf Teile gegliedert, diese wiederum bestehen aus teilweise recht kurzen Kapiteln.


Fazit
Eine etwas andere Geschichte als gedacht erwartet hier den Leser; in ihrer Kernaussage tief bewegend, allerdings war mir persönlich der religiöse Anteil etwas zu stark ausgeprägt. Dennoch lesens- und in jedem Fall nachdenkenswert.


4 Sterne


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