Drucken
Kategorie: Interviews mit Autoren

Fitzek Tsokos 02 klein


Sebastian Fitzek, bekannt für seine spannungsgeladenen Thriller, und Michael Tsokos, der wohl bekannteste Rechtsmediziner, haben gemeinsam den Thriller "Abgeschnitten" verfasst. Dabei herausgekommen ist ein literarisches Gemetzel der Meisterklasse, das unter die Haut geht und den Leser an das Buch fesselt. Der Leser-Welt haben die Autoren einige Fragen zu ihrem neuen Werk beantwortet.


Wie finden ein Thriller-Autor und ein Rechtsmediziner zusammen?

Beide: Durch Zufall. Wir waren beide bei der Talkshow „Fröhlich Lesen“ im MDR eingeladen, wo wir über unsere damals aktuellen Thriller und Sachbücher reden duften. Und wir haben schon während der Sendung gemerkt, dass wir uns sehr gut verstehen.


Und warum haben Sie sich entschlossen, gemeinsam ein Buch zu schreiben?

Sebastian Fitzek: Für kreative Menschen stellt sich eigentlich nie die Frage nach dem „Warum“. Wenn man eine gute Idee hat ist man infiziert. Und als Michael Tsokos eines Tages nicht zu einer Obduktion nach Helgoland konnte, weil ein Orkan die Insel vom Festland abgeschnitten hatte, kam ihm die Idee von einer „ferngesteuerten Sektion“ per Telefon. „Wie komme ich an die Ergebnisse der Obduktion heran, ohne selbst vor Ort zu sein, ohne selbst den Toten sezieren zu können? Was würde ich tun?“ Diese Idee verselbständigte sich, als er mir davon erzählte. Wir wussten sofort: „Lass uns daraus einen Thriller machen. Die Story hat riesiges Potenzial.“


Wie kann man sich die Zusammenarbeit an diesem Thriller vorstellen? Außer, dass Sie sich gemeinsam ins Bällebad stürzen ...

Michael Tsokos: Zunächst haben wir sehr lange, etwa ein halbes Jahr, ausschließlich über die Geschichte und ihre Figuren nachgedacht. Dann hat Sebastian einen ersten Entwurf geschrieben, den wir dann beide wieder überarbeitet haben. So lange, bis er nach anderthalb Jahren dann ins Lektorat ging.


Hat die Zusammenarbeit mit Herrn Tsokos Ihren Schreibstil verändert?

Sebastian Fitzek: Weniger die Zusammenarbeit mit ihm als das Thema. Jede Geschichte erfordert eine unterschiedliche Herangehensweise. Da es uns von Anfang an sehr wichtig war, die Abläufe der Rechtsmedizin aber auch die der Gewalt in unserer Gesellschaft so realistisch wie möglich zu schildern, ist dieser Thriller sicherlich etwas blutiger als meine anderen geworden. Aber für die schlimmsten Szenen bin nicht ich, sondern Michael verantwortlich.


Herr Fitzek hatte die Möglichkeit, Ihnen bei Ihrer Arbeit über die Schulter zu sehen. Können auch Privatpersonen bei einer Autopsie zuschauen oder muss man dazu erst Autor werden?

Michael Tsokos: Ein rechtsmedizinisches Institut ist fast so gut gesichert wie der Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses, was darin begründet ist, dass hier Unterlagen und Asservate zu laufenden Todesverfahren, vielfach Mordermittlungen, gelagert und ausgewertet werden. Insofern ist dieser Bereich tabu für die Öffentlichkeit. Lediglich ausgewählte Journalisten und Autoren können in seltenen Fällen mit Ausnahmegenehmigung bei unserer Arbeit dabei sein.


Herr Fitzek, würden Sie es jedem Thriller-Autor ans Herz legen, sich einmal live in einem Sektionsraum umzusehen bzw. bei einer Autopsie zu hospitieren?

Sebastian Fitzek: Wer die Gelegenheit hat, bei einer Obduktion dabei sein zu dürfen, sollte sich das nicht entgehen lassen. Es verändert in jedem Falle die Sichtweise auf den Tod. Und damit auf das Leben.


Sie selbst könnten Michael Tsokos' Beruf nicht ausüben. Was schreckt Sie so sehr daran?

Sebastian Fitzek: Der Geruch. Kein Witz. Mich hat weniger die Organentnahme oder das Öffnen eines Schädels mitgenommen als der permanente Fäulnis- und Verwesungsduft im Sektionsaal.


Herr Tsokos, wie kann man sich Ihren Arbeitsalltag vorstellen? Ich vermute ja, dass dieser nicht nur mit Leichen, sondern auch mit viel "Papierkram" einhergeht ...

Michael Tsokos: Es beginnt morgens um 7:30 Uhr mit einer Frühbesprechung aller Mitarbeiter – was am Tag vorher lief, was in der Nacht im Bereitschaftsdienst passiert ist und welche Obduktionsfälle für den Tag anliegen. Dann geht es bis etwa 12:00 Uhr in den Sektionssaal. Wir führen pro Tag 12 bis 15 Obduktionen an 9 Sektionstischen durch. Den Rest des Tages werden Sektionsprotokolle diktiert und korrigiert, Gutachten geschrieben und dazu Krankenunterlagen und Ermittlungsakten ausgewertet, Medizinstudenten unterrichtet, lebende Opfer von Gewalttaten in Berliner Kliniken konsiliarisch untersucht, wissenschaftliche Publikationen geschrieben, und Vieles, Vieles mehr.


Gibt es einen Fall, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Michael Tsokos: Ich erinnere mich an jedes durch ein Gewaltverbrechen getötete Kind. Ich erinnere mich an jedes von ihnen und an das kleinste Detail der Verbrechen. Das ist eine Bürde mit der ich leben muss. Mein ganzes Leben.


Ist "Abgeschnitten" inspiriert von realen Fällen?

Beide: Die Ausgangssituation war zu 100 % von der Wirklichkeit inspiriert, ansonsten ist die Geschichte rein fiktiv, wobei natürlich Erlebnisse aus der Praxis immer wieder eingeflossen sind, die Realität sich also wie ein roter Faden durch das Buch webt.


Die Sondereinheit des BKA für besonders grausame Gewaltverbrechen entstammt hingegen gänzlich Ihrer Fantasie. Warum haben Sie sich dazu entschieden?

Beide: Um nicht mit realen Lehrstuhlinhabern im Fach Rechtsmedizin in Diskussion zu geraten, warum wir unseren Hauptdarsteller nun ausgerechnet in ihrem Institut ansiedeln.


Herr Tsokos, wie viel von Ihnen steckt in Paul Herzfeld, dem Rechtsmediziner in "Abgeschnitten"?

Michael Tsokos: Paul Herzfeld und ich haben gemeinsam, dass wir beide Rechtsmediziner sind, beide in etwa gleich alt sind, in Berlin leben und arbeiten und beide eine Tochter haben.


Vermeiden Sie, ebenso wie Herzfeld, den direkten Kontakt mit Angehörigen?

Michael Tsokos: Ja. Immer. Nur so kann man mit der gebotenen Objektivität den Beruf des Rechtsmediziners ausüben. Wir müssen unvoreingenommen sein. Emotionen haben im Sektionssaal nichts verloren.


Ist dieser Thriller gleichzeitig eine Ermahnung der Justiz, dass die härtere Bestrafung von Steuersündern gegenüber Kinderschändern ein Unding ist?

Beide: Es ist eine Ermahnung bei der Bestrafung nicht nur die Schuld des Täters sondern auch das Leid der Opfer zu berücksichtigen. Gerade bei Sexualdelikten haben die Opfer meist „lebenslänglich“ erhalten, im Vergleich dazu kommen die Täter mit milderen Strafen davon. Natürlich kann man das nicht pauschalisieren. Aber es ist schon bedenkenswert, wenn der BGH die Empfehlung ausspricht, ab der Steuerhinterziehung von einer Million Euro keine Bewährungsstrafen mehr zu verhängen, wohingegen es eine solche Empfehlung im Falle von Kindesmissbrauch nicht gibt.


Herr Fitzek, verfolgen Sie die nicht selten bestialischen Bilder aus Ihren Büchern auch mal in den Schlaf?

Sebastian Fitzek: Nein, im Gegenteil. Es passiert so viel schreckliches in der Welt, oftmals sehr viel grausamer als das, was ich beschreibe, dass mich diese realen Bilder im Schlaf verfolgen würden, wenn ich sie durch das Schreiben nicht aus meinem Kopf bekommen würde. Schreiben ist für mich also so etwas wie Therapie.


Fällt es Ihnen eigentlich leicht, Ihre Figuren auf so grausame Art und Weise leiden zu lassen? Oder erschrecken Sie sich teilweise vor sich selbst?

Fitzek Tsokos kleinBeide: Nochmal: wir stellen uns die Realität vor und mildern sie ab. Das mag für einen Laien, der nicht beruflich mit Tod und Gewalt zu tun hat, unvorstellbar erscheinen, wo doch unser Buch schon sehr grausam ist. Aber erst kürzlich ging ein Fall durch die Presse, in dem ein Mann seiner Frau schwere Schnittwunden beigebracht hat. In Wahrheit aber waren die Verletzungen so unvorstellbar grausam, dass sie keinem Zeitungsleser zumutbar waren. Und auch wir würden sie in unseren Thrillern nicht explizit darstellen können. Daher ist die Antwort: Nein. Wir haben keine Angst vor uns selbst, höchstens vor der Wirklichkeit.


Wie versetzen Sie sich in Figuren wie Sadler oder Rebecca hinein?

Sebastian Fitzek: Wenn wir das wüssten, würden wir ein Buch darüber schreiben. Ich finde es eines der größten Wunder des Schreibens, dass es einem tatsächlich gelingt, irgendwann mit der fiktiven Figur zu verschmelzen und sie plötzlich zu einem realen Lebewesen wird. Fragen Sie mich nicht, wie das passiert.


Man hört immer wieder von Autoren, dass sich ihre Figuren selbstständig gemacht haben. Bei dem selten dämlichen Praktikanten Ingolf von Appen soll dies auch der Fall gewesen sein. Können Sie uns dazu mehr verraten?

Sebastian Fitzek: Am Anfang wollten wir Herzfeld nur einen Laien zur Seite stellen, einen Praktikanten, der die Fragen stellen kann, die auch der rechtsmedizinisch unerfahrene Leser hat. Michael erzählte mir von einem trotteligen Praktikanten, dem gleich am ersten Tag seine Brille in den Brustkorb einer geöffneten Leiche fiel. Genau mit dieser Szene wird Ingolf von Appen eingeführt, den wir zunächst als einen unangenehmen Schnösel angelegt hatten. Doch dann entwickelte er ein von uns nicht kontrolliertes Eigenleben. Wir haben das nicht geplant, er selbst hat sich zu einer sympathischen Figur entwickelt, den wir am Ende richtig in unser Herz geschlossen haben.


Eine - wie der Danksagung im "Augenjäger" zu entnehmen ist - der häufigsten Fragen bei Ihren Lesungen ist die nach der Macke, die Sie haben müssen, um so etwas zu schreiben. Und? Wie groß ist diese?

Sebastian Fitzek: Nicht größer, als die der Leser, die es sich gerne mit Axtmördern und Psychopathen auf der heimischen Couch gemütlich machen.


Herr Tsokos, iIch finde es interessant, dass Sie mit Herrn Fitzek einen dermaßen spannenden und brutalen Thriller geschrieben haben, selbst aber weniger der Thriller- oder Horrortyp sind, sondern es sich lieber mit einem guten Krimi gemütlich machen. Warum schreiben Sie dann einen Thriller?

Michael Tsokos: Wenn ich einen Kochbuch-, Kinderbuch- oder Bastelbuchautoren kennenlerne, der mir genauso sympathisch ist wie Sebastian Fitzek und mit dem ich denselben Riesenspaß wie mit Sebastian beim Entwickeln und Umsetzen eines Buches bzw. Themas habe: Warum nicht? Dann schreibe ich auch Kinderbücher, Kochbücher oder Bastelbücher. Es ging nicht um das Genre bei unserer Zusammenarbeit; das ist zweitrangig.


Werden Sie Ihre Leser mit weiteren Thrillern das Gruseln lehren? Oder gehen Sie nun wieder getrennte Wege?

Beide: Weder noch. Wir sind mittlerweile sehr gut befreundet, werden also keine getrennten Wege gehen. Ob die Freundschaft uns aber wieder an den Schreibtisch führt hängt einzig und allein von einer guten Idee ab. „Abgeschnitten“ ist ein großer Erfolg, aber wir wollen nicht nur deshalb auf Zwang eine Fortsetzung schreiben. Sollte uns mal wieder die Muse küssen und wir auf eine tolle Idee stoßen, dann werden wir uns sicher nicht dagegen sperren. Aber momentan unterhalten wir uns auf unseren Treffen eher über unsere insgesamt 7 Kinder  - und nicht über einen neuen Thriller.


Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Interview!