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Kategorie: Romane

Elf Leichen werden in einem verschneiten Bergdorf gefunden. Ein Pfarrer und eine Psychiaterin versuchen, dem Unfassbaren auf die Spur zu kommen. Doch was sie finden, ist etwas ganz anderes als das, wonach sie gesucht haben. Mitreißend spürt Sandro Veronesi den Grundfragen von Schuld und Sühne, Gut und Böse, Vernunft und Glauben nach.

 

XY 

Originaltitel: XY
Autor: Sandro Veronesi
Übersetzer: Michael von Killisch-Horn
Verlag: Klett-Cotta Verlag
Erschienen: August 2011
ISBN: 978-3-608-93960-6
Seitenzahl: 394 Seiten

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Die Grundidee der Handlung
Nahe des Bergdorfes San Giuda in Italien werden elf Leichen im tiefverschneiten Wald entdeckt: Jede mit einer ganz eigenen Todesursache, angefangen bei Selbstmord, Mord, ein Haifischbiss, ein verschlucktes Brot bis hin zu grauenhaften Verstümmelungen. Die Staatsanwaltschaft steht vor einem Rätsel, genauso wie Don Ermeto, der Priester des Ortes. Erschüttert beobachtet er, wie ihm die Zügel entgleiten, die er bisher im Dorf fest in der Hand gehalten hat. Die eng verschworene Gemeinschaft bricht auseinander. Er versucht Hilfe bei der Psychiaterin Giovanna Gassion zu erhalten, die gemeinsam mit ihm nach San Giuda reist. Geschlagen mit ihren eigenen Problemen sieht aber auch sie sich einem unlösbaren Rätsel gegenüber ...


Stil und Sprache
Der Roman wird unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Die einen werden ihn hassen, die anderen fasziniert von ihm sein. Kalt lassen wird dieses Werk wohl niemanden. Handwerklich überaus geschickt hängt Veronesi seine Erzählung an seine beiden Hauptfiguren. Don Ermeto berichtet in einem fast schon poetischen, aber auf jeden Fall bildhaften Stil in der Vergangenheit von seinen Erlebnissen. Giovanna, deren Abschnitte sich - von dem kleinen verschmolzenen XY getrennt - mit denen des Priesters abwechseln, erzählt weitaus dialoglastiger im Präsens. Ihre Telefonate mit ihrer Mutter bestehen nur aus direkter Rede. Dabei ist aber immer klar, wer gerade spricht. Als sich die beiden das erste Mal gegenüberstehen, rutscht auch der Priester ins Präsens, was erst im Nachhinein auffällt, denn es wirkt nicht ungewöhnlich. Wiederholungen von Satzanfängen wie "indessen" betont Veronesi noch durch die Formatierung, indem er sie immer an einen neuen Absatz stellt.

Ebenfalls auffallend ist, dass der Leser den Namen des Priesters erst auf Seite 174 erfährt. Davor bleibt er ein namenloser Mann. Genauso beeindruckend ist, dass der Leser keine vorgefertigten Meinungen und Lösungen erhält. Die Fragen nach dem "was" oder "warum" bleiben offen, wodurch sich das Buch keinesfalls als Thriller einsortieren lässt. Im Grunde nähert sich der Leser durch den Priester und die Psychiaterin den Vorfällen, muss aber einen eigenen Erklärungsversuch finden.

Die Beschreibungen des abgeschiedenen Ortes mit seinen Bewohnern und deren verwirrenden Namen ziehen direkt in die seltsame Schicksalsgemeinschaft, die sich dort gebildet hat. Das, was den Roman interessant macht, ist äußerst schwer auszumachen. Während anfangs noch die Hoffnung besteht, dass es für den Vorfall eine Lösung gibt, zeichnet sich bald ab, dass das nicht der Hauptfokus der Geschichte ist. Die psychiatrischen Theorien, die Giovanna vorlegt, die Glaubensfragen, die Don Ermeto aufwirft - all das lässt den Leser verstört und definitiv verändert zurück. Ob zum Besseren oder Schlechteren gehört zu den Fragen, die auftauchen, jeder aber für sich selbst beantworten muss.


Figuren
Don Ermeto ist eine eindrucksvolle Erscheinung. Als Giovanna ihn beschreibt, wird erst klar, dass er ein sehr charismatisches Wesen besitzt. Von Beginn an ist er eindeutig sympathischer als die Psychiaterin. Er sorgt sich um die ihm anvertrauten Menschen, macht sich Vorwürfe und ist einer der wenigen, der Zeuge der elf Toten ist, sowie Bescheid weiß, dass sie alle an unterschiedlichen Todesarten verschieden sind. Glücklicherweise schleicht sich in die Beziehung zu Giovanna nie ein erotischer Unterton, wodurch das Buch auf das Thema des Dorfes konzentriert bleibt.
Giovanna hat genug mit ihrem Ex-Liebhaber zu tun. Alberto lässt sie, ihren Worten nach, nicht in Ruhe, seit sie sich von ihm getrennt hat. Interessanterweise ist es aber ungefähr nach der Hälfte des Buches vor allem sie, die ständig nach ihm fragt. Die Dichte ihrer psychologischen Betrachtungen zeigt, dass Giovanna immer schnell mit einer Erklärung der Verhaltensweisen der Dorfbewohner ist. Zugleich ist sie ungemein unsicher und besitzt zahllose Vorurteile, was sich daran zeigt, dass sie erstaunt ist, dass Don Ermeto einen Text von Freud kennt. Ihr Verhältnis zu ihrer Mutter und zu Alberto bietet einiges an Interpretationsmöglichkeiten, macht sie aber nicht besonders sympathisch.

Im Grunde ist Don Ermeto ein Gegenstück zu Giovanna, da er nach einer wissenschaftlichen Untersuchung und Verzweiflung zu seinem Glauben zurückfindet, während Giovanna immer auf der Suche nach einer rationalen Erklärung ist. Die restlichen Figuren zeichnen sich alle durch ausgeprägte psychische Probleme aus und bleiben dem Leser fern, bis auf eine Art seltsame Neugierde darauf, wie sie sich nun verhalten werden.


Aufmachung des Buches
Der Hardcover-Band ist unter dem Schutzumschlag komplett in einem weißgrau gehalten und besitzt nur auf dem Buchrücken den Titel und den Namen des Autors. Der Umschlag zeigt in Hochglanz ein rotes X, das mit einem Y verschmolzen ist. Es wirkt ein wenig wie eine freigeschaufelte Fläche und schließt einen Bogen zu dem vereisten Baum der Geschichte, an den dieses Symbol in dieser Farbe erinnert. Die vordere Klappe beinhaltet eine ausführliche Inhaltsangabe, die hintere einige Informationen über den Autor und ein Foto, sowie einen knappen Abschnitt über den Übersetzer. Auf der Rückseite des Buches ist die Inhaltsangabe zu lesen.


Fazit
"XY" zwingt den Leser in die Rolle der beiden Protagonisten und lässt ihn mit ähnlichen Entscheidungen zurück. Es bietet keine eindeutigen Lösungen, was dazu führt, dass es viel Interpretationsspielraum lässt. Dieses Buch sollte man in einer Runde lesen oder zumindest die Möglichkeit haben, mit anderen darüber diskutieren zu können. Dann aber bietet es sehr viel Gesprächsstoff.


4 Sterne


Hinweise
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Zum Roman wurde eine ausführliche Internetseite erstellt, auf der die Landkarte des Dorfes, die Verwandtschaftsverhältnisse der Bewohner und ein Wörterbuch zu finden sind.