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Kategorie: Romane

Norwegen 1961 - Finn ist zehn Jahre alt und wächst in einer schmucklosen Vorstadt von Oslo auf. Er ist schmächtig, aber vielleicht der klügste Junge seiner Klasse. Von seinem Vater weiß er nur, dass er bei einem Unfall ums Leben kam. Seine Mutter aber führt ihn sicher durchs Leben. Bis die beiden eines Tages einen rätselhaften Untermieter aufnehmen und bald darauf auch Finns Halbschwester Linda. Die Sechsjährige ist die Tochter des toten Vaters und einer drogensüchtigen Mutter. Ihr Gepäck: ein himmelblauer Koffer und jede Menge emotionaler Sprengstoff. Das dicke, unscheinbare Mädchen wird Finns Leben bald für immer verändern.

 

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Originaltitel: Vidunderbarn
Autor: Roy Jacobsen
Übersetzer: Gabriele Haefs
Verlag: Osburg
Erschienen: 2011
ISBN: 978-3-940731-58-6
Seitenzahl: 270 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Der 10-jährige Finn lebt mit seiner geschiedenen Mutter in einer Vorstadt von Oslo. Obwohl Finns Mutter als Schuhverkäuferin Arbeit gefunden hat, sind die Zeiten schlecht und das Geld knapp. Um die magere Haushaltkasse etwas aufzubessern entschließt sie sich die Wohnung etwas umzubauen, um einen Untermieter aufnehmen zu können. Mit dieser Entscheidung beginnt für Finn eine Zeit der großen Veränderungen. Ein etwas seltsamer Mann namens Kristian zieht als Untermieter in das neu abgetrennte Extrazimmer ein und bringt durch seine Anwesenheit etwas Unruhe in die kleine Familie. Finn hat plötzlich das Gefühl, dass ihn seine Mutter immer mehr aus ihrem gemeinsamen Leben ausschließt. Es fällt ihm auf, dass sie Entscheidungen trifft ohne seine Meinung dazu einzuholen, und Dinge vor ihm geheim hält. Es dauert nicht lange, bis sich der Junge vernachlässigt und unverstanden fühlt. Als sie ihn dann vor die vollendete Tatsache stellt, dass sie Finns jüngere Halbschwester Linda, aus der zweiten Ehe seines Vaters, in der Wohnung aufnimmt, ist Finn wie vor den Kopf geschlagen. Noch wissen die Beiden nicht, dass die pummelige Sechsjährige ihre gewohnte Welt ziemlich durcheinander bringen wird. Obwohl beide mit der Situation oft überfordert sind, tun sie ihr Bestes, um ein "normales" Leben beizubehalten. Doch sie bemerken bald, dass ihr Leben nie mehr so werden kann, wie zuvor.

Die Erzählung bietet einen interessanten Einblick in das Leben in Norwegen in den 60iger Jahren. Da sich die Geschichte behutsam entwickelt und dadurch erst nach und nach die Probleme und Komplikationen freigibt, mit denen die Protagonisten zu kämpfen haben, wird das Buch all jene Lesern besonders ansprechen, die eine vielschichtige Erzählung mit interessanten Charakteren lieben. 


Stil und Sprache
Die Geschichte wird in der Ich-Form - aus der Sicht des 10-jährigen Finn - erzählt. Durch die gesamte Geschichte hindurch wechseln sich immer wieder einmal Szenen, in denen Finn quasi als Erzähler und Kommentator agiert, mit jenen Situationen ab, in denen Finn als Hauptperson direkt im Geschehen agiert. Durch die leicht vorstellbaren Beschreibungen können sich die LeserInnen in die beengte Situation im Wohnblock mühelos hinein fühlen und die Sorgen und Nöte der kleinen Familie nachempfinden. Da die Meinungen und Gefühle von Finn gut in die Erzählung eingeflochten wurden, dauert es nicht lange, um in die Geschichte hineinzurutschen. Besonders die schwierige Situation, in der sich Finns Mutter plötzlich wiederfindet, als sie für ein 6-jähriges Kind mit besonderen "Macken" verantwortlich ist, wird eindringlich gezeigt. Die familiären Komplikationen, die unter dieser besonderen Situation auftreten, entwickeln sich langsam aber stetig weiter, sodass man die schwierige Lage der kleinen Familie gut verstehen kann. Die liebevoll beschriebenen Kleinigkeiten rund um Finns Umwelt und Freunde und ebenso später auf dem Campingplatz machen die Szenen lebendig und gut vorstellbar.
Im Lauf der Erzählung fühlt man intensiv mit Finn mit, wie ihn diese - plötzlich so extrem veränderte Situation - überfordert und wie er verzweifelt versucht, seine Mutter dazu zu bringen, dass sie seine Probleme bemerkt. Man kann den Frust des Jungen gut verstehen, als sich seine Mutter, der "Felsen in der Brandung“, plötzlich und unerwartet verändert und auf einmal Geheimnisse vor ihm hat. Finns Verwirrung und Eifersucht, als er einfach in die "2. Reihe" gestellt wird und sich die Mutter - statt um seine Nöt e- hingebungsvoll um Linda kümmert, ist gut zu sehen. Aber auch sein wachsendes Verantwortungsgefühl seiner Mutter und Halbschwester gegenüber kommt zum Tragen und man sieht sehr schön, wie sich Finn bis zum Ende des Buches auch emotional weiter entwickelt.

Das eigenartige Verhältnis von Finns Mutter zum Untermieter Kristian, der sich manchmal etwas seltsam benimmt und bis zum Schluss nicht wirklich einzuschätzen ist, zieht sich unterschwellig durch die gesamte Geschichte und trägt dadurch sehr zur Spannungssteigerung bei. Da dem Leser die Geschichte immer in Augenhöhe der Hauptperson erzählt wird, weiß dieser nie nie mehr als Finn und wird somit von den Ereignissen genauso überrascht wie er. Besonders das "Anderssein" von Linda ist sowohl für Finn, als auch für dessen Mutter eine riesengroße Herausforderung, der sich beide stellen müssen. Das Gefühlschaos, das Finn durchlebt, wird durchaus glaubwürdig in Szene gesetzt, obwohl Finn in manchen Situationen viel "erwachsener" und abgeklärter denkt oder handelt, als man es für einen Jungen seines Alters annehmen würde.

In dem Buch finden sich auch eine Menge Andeutungen, die teilweise später wieder aufgenommen und manchmal auch etwas kryptisch erklärt werden. So bleibt viel Raum für allerlei Spekulationen. Zum größten Teil in der Mitvergangenheit erzählt, werden manche Szenen aber auch ab und zu in der Gegenwart beschrieben; ein gelungener Kniff, der wirklich gut zu den jeweiligen Situationen passt und keineswegs stört. In einigen Dialogen wurden ab und zu ungewöhnlich derbe Ausdrücke verwendet, die bei der überwiegend angenehmen Ausdrucksweise des Autors sehr unangenehm berühren, besonders, da sie ansatzlos und erschreckend plötzlich auftauchen.
 

Figuren
Finn ist ein kluger, selbstbewusster Junge von 10 Jahren, dessen gewohnte Welt mit einem Mal aus den Fugen gerät. Er versucht sich auch emotional so recht und schlecht durchzukämpfen und ist gezwungen, sein sorgloses Kindsein hinter sich lassen. Er fühlt sich von seiner Mutter im Stich gelassen und leidet unter den vielen Veränderungen in so kurzer Zeit, besonders als er sich plötzlich als großer Bruder eines pummeligen Mädchens, das sich oft etwas eigenartig verhält, beweisen muss. Linda ist ... einfach Linda. Sie ist anders, als die Kinder in ihrem Alter, die im Wohnblock leben, und anfangs weiß keiner so recht, was er mit ihr anfangen soll. Finns Mutter tut ihr Bestes, sie ist mit der Situation, plötzlich für zwei Kinder sorgen zu müssen, jedoch völlig überfordert. Sie ist eine unsichere Frau, die an der neuen Verantwortung fast zerbricht und in ihrer Verzweiflung Entscheidungen trifft, die sie gar nicht wirklich treffen wollte und später bereut.
Der Untermieter Kristian ist ein schwer einzuschätzender, rätselhafter Mann und bleibt es bis zum Schluss auch mehr oder weniger.

Finn erzählt in der ersten Person und so ist es leicht, über seine Gefühle und Probleme in die Geschichte hineinzurutschen. Da Finn von einem Tag auf den Anderen mit vollkommen neuen Spielregeln umgehen muss, ist er permanent bemüht, den Überblick nicht zu verlieren - und versucht mit aller Kraft, mit den neuen Situationen klarzukommen.


Aufmachung des Buches
Das Buch ist fest gebunden und mit einem Schutzumschlag sowie einem hellblauen Lesebändchen versehen. Auf dem Cover sieht man über Wasser die Beine von zwei Kindern, die scheinbar einen Unterwasserhandstand machen. Der Rückseitentext führt gut in die Geschichte ein und macht neugierig auf den Inhalt. Auf der rückwärtigen Innenseite des Covers findet man eine Kurzvita mit einem Bild des Autors.
Die Geschichte ist in 30 Kapitel unterteilt und lässt sich durch die gut gewählte Textformatierung sehr angenehm lesen.  


Fazit
Das empfehlenswerte Buch bietet eine lebendige und spannende Geschichte aus den 60iger Jahren in Norwegen, die auch anspruchsvolle Leser sehr gut unterhalten wird. Das Thema bietet, ebenso wie der Schreibstil, eine sehr vielschichtige und interessante Lektüre für alle LeserInnen, die gute Geschichten lieben.


4 Sterne


Hinweise
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