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Zum 25. Jahrestag der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl am 26. April 2011 gibt das IBB einen Bildband mit Fotografien von Rüdiger Lubricht heraus: "Verlorene Orte, gebrochene Biografien" zeigt auf 120 Seiten verlassene Dörfer und die letzten Bewohner der Region rund um Tschernobyl, die durch den radioaktiven Fallout verstrahlt worden ist. Der Bildband, herausgegeben von Peter Junge-Wentrup, Geschäftsführer des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks Dortmund, enthält ein Vorwort von Dr. Astrid Sahm.

 

 

Herausgeber: Peter Junge-Wentrup
Fotograf: Rüdiger Lubricht
Verlag: IBB Dortmund
Erschienen: Februar 2011
ISBN: 978-3-935950-11-4
Seitenzahl: 120 Seiten


Stil, Bilder- und Textdarstellung
Ein roter Stuhl auf einem Hotelbalkon, gerichtet auf eine kleine Stadt mit weißen Wohnhäusern, umgeben von meterhohen, in vollem Saft stehenden Bäumen, die sich schützend um die Häuser gruppieren. Was hier so idyllisch anmutet, ist der Blick auf die Stadt Pripjat, die 4 Kilometer von dem havarierten Reaktor Tschernobyl entfernt liegt. Die Wohnblocks auf dem Foto sind seit 25 Jahren unbewohnt, Birken, unbeeindruckt von der radioaktiven Strahlung, erobern den Balkon und der rote Stuhl droht auseinanderzubrechen.

Rüdiger Lubricht fotografierte mehrere Jahre einige der verlassenen Orte in der kontaminierten 30-km-Sperrzone. Sie zeigen auf bedrückend-romantische Weise, wie die Welt ein Vierteljahrhundert nach Tschernobyl aussieht. Ein stillstehendes, langsam verrottendes Riesenrad, übriggeblieben von einem geplanten Rummel, der am 1. Mai 1986 seine Pforten für die vielen dort einst lebenden Menschen öffnen sollte, ein pittoresker Dorfbrunnen, ein Haus, das auf die Rückkehr seiner Bewohner wartet. Insgesamt gibt es 500 solcher Orte. Obwohl die offizielle Einwohnerzahl bei Null liegt, leben in einigen Dörfern mehrere hundert Menschen. Vor allen Dingen die Älteren, die drei Tage nach dem Reaktorunfall zwangsevakuiert wurden, zog es in ihre alten Heimatdörfer zurück. Es ist erstaunlich, wie friedvoll sie in die Kamera blicken. In diesem Fall scheint die mangelnde Informationspolitik der damaligen Sowjetunion ihnen ein gütliches Leben zu bescheren, denn Radioaktivität kann man weder sehen noch riechen.

Im Gegensatz zu den „Liquidatoren“, eine aus zunächst 353 Reservisten bestehende Spezialeinheit, die die schier unlösbare Aufgabe hatte, die Radioaktivität zu liquidieren. Ihre Zahl wuchs in den folgenden Jahren auf ca. 600 000 an, genaue Zahlen gibt es nicht, da sie von staatlicher Seite nicht erfasst wurden. Sie waren Helden zu Sowjetzeiten, heute sind sie vergessen, und die wenigen Überlebenden kämpfen um ihr Recht auf Anerkennung als Liquidator.
Lubricht porträtierte 29 dieser Liquidatoren und ließ sie ihre Geschichte erzählen. So zum Beispiel Anatolii Kifa, „Damals, im Jahr 1986, wurden die Liquidatoren fast vergöttert, (…). Aber die Zeit ist vergangen und wir sind vergessen.“ (S. 86). Oder Tamara Kalesnik, die im August 1986 im Umkreis von 15 Kilometern um Tschernobyl herum Nagetiere fangen musste und sie für eine Analyse weiterleiten, „um die Krankheitsrate zu ermitteln. (…) Wir verstanden nicht, welchen Sinn unsere Arbeit machen sollte.“ (S.68). Heute sind sie selbst alle schwerkrank.


Umsetzung, Verständnis und Zielgruppe
Seit dem ersten Besuch des Bremer Fotografen Rüdiger Lubricht im Jahre 2003 in der Ukraine beschäftigt er sich mit Tschernobyl und den Auswirkungen des Super-GAUs auf die Menschen. Fotografien seines Langzeitprojekts „Tschernobyl – Leben mit einer Tragödie“, Lubricht war inzwischen das sechste Mal in den verseuchten Sperrgebieten, sind in einer Wanderausstellung des IBB Dortmund zu sehen. Ein Teil dieser erschütternden Fotos sind nun in dem vorliegenden Bildband dokumentiert.
Gerade seine besonnene Herangehensweise an die „Selbstansiedler“ und den Liquidatoren zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit den Menschen. Die Selbstansiedler, geschmückt mit einem Kopftuch und neben bunt bestickten Kissen sitzend, die Liquidatoren, Zeitzeugen einer atomaren Katastrophe, die bei dem Versuch ein ganz normales Leben zu führen, gescheitert sind, blicken dennoch voller Zuversicht in die Kamera.


Aufmachung des Buches
Der gebundene, quadratische Band ist mit einem Schutzumschlag in tiefem Schwarz mit einer weißen Schrift versehen, der einer Traueranzeige gleicht.
Die großformatigen Fotos, aufgenommen mit Mittel- und Großformatkameras, zeugen von einer hervorragenden Qualität.

Dieses überaus wichtige Buch wurde mithilfe von Zuschüssen aus öffentlichen Mitteln und privaten Stiftungen realisiert.


Fazit
Die Bilder von Rüdiger Lubricht stehen als Sinnbild für ein Mahnmal eines sorglosen Umgangs mit Menschen. Besonders beeindruckend und schmerzhaft sind die Bilder aus einem Kindergarten, in dem die Puppen und Teddybären ihren Platz seit 25 Jahren nicht verlassen haben.
Ein Erinnerungsband gegen das Vergessen und zur rechten Zeit. 25 Jahre nach Tschernobyl, das in der westlichen Welt schon fast dem Vergessen zum Opfer fiel, erreicht uns ein neues Armageddon: Fukushima.


5 Sterne


Hinweise
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