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Kategorie: Boys Love

In einer Bar fällt Tatsuyas Blick auf einen jungen Kellner. Fasziniert von Haru, nimmt Tatsuya ihn mit zu sich nach Hause und eine zärtliche Romanze entspinnt sich. Doch als Tatsuya in dem Geliebten seinen vor Jahren verschwundenen, kleinen Stiefbruder zu erkennen meint, bricht er den Kontakt ab. Unvermittelt taucht ein zweiter Bruder auf und Familiengeheimnisse beginnen sich zu entwirren. Gelingt es den beiden ihre Liebe zu retten …? 

 

 

Originaltitel: Uso to Kiss
Autor: Masara Minase
Übersetzer: Mathilde Schmitz
Illustration: Masara Minase
Verlag: Carlsen Manga
Erschienen: Dezember 2010
ISBN: 978-3-551-77078-3
Seitenzahl: 194 Seiten
Altersgruppe: ab 16 Jahren


Die Grundidee der Handlung
Einst wuchsen Haruka (kurz: Haru) und der neun Jahre ältere Tatsuya zusammen als Stief(Halb?)-Brüder auf. Durch die Entzweiung ihrer Eltern verloren sie sich dann plötzlich aus den Augen. Als sie nach etlichen Jahren in einer Bar, wo Haru kellnert, aufeinandertreffen, bleibt die Begegnung nicht ohne Folgen. Aus Angst um ihre äußerst zerbrechliche Beziehung, hütet aber jeder von ihnen so seine kleinen Geheimnisse. Immer tiefer verstricken sie sich im Laufe der Zeit in Schwindeleien, die natürlich irgendwann auffliegen (müssen)…

Die Mangaka Masara Minase ist der Inbegriff für komplizierte, feinfühlige, aber stets kitschfreie Liebesgeschichten zwischen Männern, die das reinste Wohlbehagen bei der zumeist weiblichen Leserschar auslösen. Doch dieser Band geht weit über eine schön erzählte Liebesgeschichte hinaus, beinhaltet er zusätzlich zur Homosexualität die Tabuthemen Inzest und Sex mit Minderjährigen (in Japan ist man bis zum 20. Lebensjahr minderjährig). Von Anfang an ziehen einen die überaus sympathischen Protagonisten in den Bann. Mit großem Mitgefühl verfolgt man deshalb sämtliche Irrungen und Wirrungen ihrer in vielerlei Hinsicht sittenwidrigen, verbotenen Liebe und hofft inständig, sie möge eine Zukunft haben.
Gerade wegen seines gewagten, dafür aber ehrlichen und zum Inhalt passenden Schlusses, war dieser Manga stets meine unangefochtene Nr. 1 unter Minases zahlreichen Werken. Zu meinem großen Bedauern ist nun die deutsche Version in der entscheidenden Passage des Extra-Kapitels Das Geheimnis dahingehend abweichend übersetzt und beschönigt, dass nichts mehr Anstößiges darin zu finden ist (vermutlich um den Freifahrschein für die Altersgrenze ab 16 J. zu erhalten).


Beurteilung der Zeichnung / Textdarstellung
Will ich Masara Minases Zeichnungen mit wenigen Worten umschreiben, bediene ich mich häufig der Aussage „zu schön, um wahr zu sein“. Es gibt kaum eine Mangaka in der Branche, die schönere, anbetungswürdigere männliche Protagonisten zeichnet als sie. An ihnen kann Frau sich einfach nicht sattsehen.

Im Plot stellt die Mangaka die Gefühle und die Liebe klar über den Sex. Trotzdem verzichtet sie in den Hintergründen gänzlich auf die branchenüblichen, kitschigen Motive wie Blümchen, Herzchen etc., um dies auch grafisch zu unterstreichen. Sie erzeugt gefühlvolle, romantische Stimmungen allein mittels Augenausdruck, Mimik und Gesten. Blumenmotive flicht sie höchstens dezent in ihre Titel- oder Kapitelbilder ein. Ich staune jedes Mal aufs Neue, welche Magie sie mit ihren aussagekräftigen Bildern heraufbeschwört. Leicht und spielerisch wechselt sie ständig zwischen gezoomten Aufnahmen mit ihren Protagonisten im Mittelpunkt und zur Orientierung dienenden Bildern mit schön ausgearbeiteten Hintergründen, in denen die Bar, Tatsuyas Hochhaus-Apartment, sein Büro und gelegentlich auch mal Autos und Straßen zu sehen sind.

Harus Gesicht bietet weit mehr und extremere Verwandlungsmomente als Tatsuyas. Wenn er z.B. in der Bar „auf älter macht“, um sein wahres Alter zu überspielen, ist sein Gesicht schmal und ernst, doch schon im nächsten Moment kann der kleine Junge hervorkommen mit großen, geweiteten Pupillen und einer deutlich runderen Gesichtsform, welche Schutzbedürftigkeit vermitteln. Am besten gefallen mir an ihm jedoch sein häufig anzutreffender, Trotz oder Verletzlichkeit ausdrückender Schmollmund und seine lebhaften, strahlenden Augen. Haru ist ein Charakter, der sich erstrangig von seinem Herzen lenken lässt, im Gegensatz zu dem älteren, erwachsenen Tatsuya, der hin und her gerissen ist zwischen Vernunft und Torheit, Verstand und Gefühl, Kopf und Herz. Er ist meistens ernst, zurückhaltend und lässt seinen wahren Gefühlen selten Gelegenheit auszubrechen, nichtsdestotrotz ist der ständige Widerstreit in ihm gut erkennbar. In dieser vielschichtigen Geschichte haben sogar die Nebenfiguren Substanz, allen voran der andere Halbbruder Kaname, dem eine kurze, dafür entscheidende Rolle zukommt. Gut gefällt mir auch Harus Chef in der Bar, der mit der eigenartigen Bruderbeziehung erstaunlich lässig und doch glaubhaft umgeht.

Ebenfalls rundum gelungen sind in dem Manga die Sexszenen. Dies ist ja immer eine besonders schwierige Gratwanderung, der nur die guten Mangakas gewachsen sind. Minases Bilder geben nie zu viel preis, stets liegt das Hauptaugenmerk auf den Gesichtern der Akteure und nicht auf den Intimbereichen unterhalb der Gürtellinie. Dennoch ist natürlich klar erkennbar was vor sich geht, ebenso sind die Dialoge ziemlich eindeutig, von daher ist die Altersempfehlung des Verlags ab 16 Jahren vollkommen in Ordnung.

Die Panels sind zwar unterschiedlich im Zuschnitt, folgen aber meist einer klassischen Anordnung, die den Manga auch für Einsteiger leicht lesbar macht. Das Schriftbild dagegen in einer feinen, teilweise sogar kursiven Groß- und Kleinschrift fällt sehr klein aus und ist vergleichsweise zu anderen Mangas mühselig zu lesen, vor allem bei schlechter Beleuchtung. Die japanischen Geräuschwörter direkt in den Zeichnungen wurden vollständig mit deutschen und teils englischen (z.B. GRIP, BLUSH) ersetzt. Eine Einheitlichkeit hätte mir grundsätzlich besser gefallen.


Aufmachung des Manga
Der Manga ist als Taschenbuch im normalüblichen Format verlegt. Gleich hinter dem vorderen Umschlagdeckel wartet eine doppelseitig illustrierte, glänzende Farbseite. Diese, wie auch sämtliche Kapitelbilder sind wunderschön und laden zum minutenlangen Schmachten und Schwelgen ein. Im Titelbild dagegen kommen mir die beiden Hauptfiguren total „fremd“ vor. Ihre Gesichter wirken kalt, abweisend und streng, im Gegensatz zum Innenteil, worin sie immer weich mit sympathischen, offenen Gesichtszügen gezeichnet sind. Für mich sieht es ganz danach aus, als wollen sie den Betrachter mit giftigen Blicken strafen, weil er sie in einer intimen Situation beobachtet. Die Illustration der Rückseite nimmt unterhalb der Inhaltsangabe ca. ¾ des Buchdeckels ein. Dieses Bild gehört zu jenen wenigen (und ich kenne eine ganze Menge aus dem Boys Love Sektor), die mir jedes Mal eine dicke Gänsehaut bereiten, wann immer ich sie betrachte …

Im einseitigen Nachwort verrät uns die Mangaka, dass Der bittere Kuss der Lüge aus dem Jahr 2005 erst ihr zweiter Mangaband war. Braucht es noch mehr Beweise für ihr begnadetes Talent, mit dem sie innerhalb kürzester Zeit zu einer der erfolgreichsten und beliebtesten Zeichnerinnen der Branche wurde?


Fazit
Masara Minases Markenzeichen sind wunderschön gezeichnete und gefühlvoll erzählte Boys Love-Mangas, deshalb ist natürlich auch Der bittere Kuss der Lüge eine Empfehlung für alle Fans des Genres.
Leider wurde die letzte entscheidende Wende im Plot mit einer „Neuinterpretation“ in der Übersetzung schön glattgebügelt. Für mich persönlich macht jedoch gerade das im Original gegen alle Normen verstoßende Ende den Unterschied zwischen einem sehr guten und einem ganz besonderen Manga aus. So bitter es ist, hier wurde die Quintessenz der Geschichte einer höheren Auflagenzahl geopfert.


4 Sterne


Hinweise
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