Die Geschichte einer großen Freundschaft, die sich nicht um Herkunft oder Standesunterschiede schert – charmant, humorvoll, farbig und manchmal auch furchtbar traurig …
Originaltitel: Oh les filles! |
Die Grundidee der Handlung
Die leise erzählte Graphic Novel verfolgt das Leben der gleichaltrigen französischen Mädchen Chloé, Leila und Agnès von ihrer Geburt bis zur Volljährigkeit, beleuchtet nebenbei ihr familiäres und soziales Umfeld und rückt ihre tiefe, unerschütterliche Freundschaft in den Mittelpunkt.
Mich erinnerte diese realistische Geschichte mit sozialkritischen Untertönen sowohl inhaltlich als auch in ihrer farbenfrohen Optik stark an AYA (Carlsen Comics). Chloé, Agnès und Leila eroberten mein Herz im Sturm, so dass ich sie mit großer Anteilnahme und manchmal mit angehaltenem Atem und pochendem Herzen begleitete, denn ihre bewegte Jugend ist nicht nur eitel Sonnenschein, sondern auch mit vielerlei Problemen gepflastert. Dies ist ein Buch, das man öfter als einmal lesen will und das ein Echo erzeugt. Es weiß mit Feinfühligkeit, Tiefe und hervorragender Figurencharakterisierung zu überzeugen.
Beurteilung der Zeichnung / Textdarstellung
In der zeichnerischen Darstellung beeindruckt der Comic ebenso wie im Inhalt mit einer außergewöhnlichen, künstlerisch anspruchsvollen Optik. Die Linienführung ist elegant weich und kommt ohne auffällige Schraffuren aus. Allerdings fiel mir auf, dass im ersten Teil die Konturenlinien stärker, dunkler und somit auffälliger in Erscheinung treten als im zweiten, wodurch dort alles insgesamt fragiler und verwischter wirkt. Was die Gründe für den Stilbruch waren, entzieht sich meiner Kenntnis. Grundsätzlich hätte ich eine Einheitlichkeit vorteilhafter gefunden.
Akzentuierungen, Tiefen und Ausdruck von Gefühlslagen erreicht Emmannuel Lepage hauptsächlich mit Licht- und Schatteneffekten in der Kolorierung. Mir ist ein derart gezielter Einsatz von Aufhellungen in den Gesichtern der Protagonisten als reines Ausdrucksinstrument noch in keinem anderen Comic begegnet. In erster Linie steht das gigantische Strahlen und Leuchten natürlich sinnbildlich für Glück und Freude, so dass einem automatisch das Herz aufgeht beim Lesen, genauso gut kann es aber auch schreckhaftes Erbleichen und Entsetzen ausdrücken und bei einem hellen Glitzern in den Augen muss befürchtet werden, dass sich diese im nächsten Moment mit Tränen füllen.
Ein unglaublich sicheres, professionelles Händchen beweist Lepage in der Darstellung der weiblichen Anatomie. Mit der hochtalentierten, tanzbegeisterten Chloé hat er sogar Gelegenheit, sein Können mehr als einmal unter Beweis zu stellen. Im kindlichen Überschwang verbiegt die kleine Chloé ihren grazilen Körper als bestünde er aus Gummi, bewegt sich luftig-leicht wie eine Feder und lässt den Leser schon früh ihr außergewöhnliches Talent ahnen. In der Ballettschule ist sie dann für viele Jahre im hautengen Dress inmitten ihrer Mitschüler zu sehen, wo sie mit Strenge gedrillt wird. Hier staunte ich als begeisterte Ballettanhängerin nicht schlecht, mit welcher Präzision Lepage die klassischen Figuren und Bewegungsabläufe nachahmt.
Die Bildhintergründe offenbaren in ausgewogenem Maß mal mehr und mal weniger Details. Wenn die Notwendigkeit erscheint, die Protagonisten in den Mittelpunkt zu stellen, sind im Hintergrund allenfalls schemenhaft Gegenstände oder Personen zu erkennen, zur Orientierung und zur Stimmungsuntermalung dagegen können die städtischen Motive sogar panelausfüllend sein.
Die Kolorierung präsentiert sich in sanftem Aquarell. Rosa, Pink, Gelb, Mintgrün, Flieder, Himmelblau, Smaragdgrün sind gemeinhin als kühle Farben bekannt, dementsprechend begegnet man ihnen in Comics eher selten – nicht so in diesem! All diese kühlen Farben verwandeln sich durch die gezielt gesetzten Aufhellungen zu einer atmosphärisch dichten Kulisse für den bewegenden Plot, dabei vermögen sie genauso viel Wärme auszustrahlen wie die dafür prädestinierten Erdfarben. Das häufige und nicht selten extreme Wechselspiel der Farben innerhalb der Szenen ist ebenfalls bezeichnend für den Comic und grenzt ihn von gängigen Mustern ab.
In der Textdarstellung bietet die Graphic Novel nichts Ungewöhnliches, außer vielleicht, dass man hier nur rechteckige Sprechblasen antrifft und keinen Erzähltext außerhalb, genauso wenig Soundwords direkt in den Bildern.
Aufmachung des Comics
Der gebundene Comic in bewährt guter Qualität aus dem Hause Splitter gehört deren „Books“-Reihe an und hat das typische Graphic Novel-Format. Die deutsche Ausgabe umfasst beide Teile, die im französischen Original gesondert erschienen. Sehr gut gefällt mir, dass die hochglänzenden Buchdeckel im gleichen Design wie der matte Schutzumschlag gestaltet sind. Die braunen Vor- und Nachsatzblätter sind mit Skizzen bedruckt. Ebenso befindet sich im Anhang ein „Sketchbook“ mit Skizzen.
Die Umschlaggestaltung wirkt auffällig und außergewöhnlich. Vorne lenkt nur das große weiße „Oh“ den Blick ein wenig von den drei Mädchen ab, die ansonsten die karge Szenerie in Gelb beherrschen. Die Rückseite hat einen rauchblauen Untergrund, auf dem die Mädchen als graue Schemen zu sehen sind. Die kurze Inhaltsangabe ist kontrastreich mit weißer Schrift aufgedruckt.
Fazit
Ungewöhnlich, dennoch ausdrucksstark gezeichnete und sensibel erzählte Geschichte um eine unerschütterliche Mädchenfreundschaft, die es hinsichtlich Tiefe und Emotionalität locker mit jedem guten Roman aufnehmen kann.
Ein Must-Have für anspruchsvolle Comicleser, genauso eine Empfehlung für Neueinsteiger, die bisher dachten, Comics seien nur auf Action aus und eher seicht in der Handlung.
Hinweise
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