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„Hallo? Kannst du meine Stimme hören?“ Eines Tages klingelte im Kopf der einsamen Schülerin Ryou ein Telefon. Ihr Gesprächspartner ist Shin’ya, der genauso wie sie ein imaginäres Handy besitzt …

GOTH-Autor Otsuichi liefert die Story zu diesem Mystery-Manga, bebildert wird er verstörend real von Mangaka Hiro Kiyohara (KIZU, Holiday).

 

 

Originaltitel: Kimi ni Shika Kikoenai
Autor: Otsuichi
Übersetzer: Burkhard Höfler
Illustration: Hiro Kiyohara
Verlag: Egmont Manga & Anime
Erschienen: März 2010
ISBN: 978-3-7704-7101-0
Seitenzahl: 192 Seiten
Altersgruppe: Adult (ab 14 Jahren - Empfehlung des Rezensenten)


Die Grundidee der Handlung
Die Schülerin Ryou hat seit Kindheitstagen den Komplex, ihre Stimme nicht zu mögen, und spricht deshalb immer weniger, bis sie aus lauter Verunsicherung kaum mehr ein Wort herausbringt. Da ist es nur logisch, dass sie kein Handy besitzt. Sie hat das Gefühl, der einzige junge Mensch ohne Handy zu sein und malt sich deshalb in ihrer Fantasie Handygespräche aus. Als ihr eines Tages jemand auf einen imaginären Anruf „antwortet“ ist sie total geschockt. Kurze Zeit später hat Ryou mit gleich zwei Personen (dem taubstummen Schüler Shin’ya Nozaki und der 28-jährigen Harada) regelmäßigen „Telefonkontakt“. Harada, die auf dem Gebiet ein absoluter Profi ist, gibt der Schülerin Tipps, wie sie Shin’yas tatsächliche Existenz überprüfen kann, außerdem erfährt Ryou von Harada, dass imaginäre Telefonpartner in verschiedenen Zeitebenen leben können.
Durch die Telefongespräche kommen sich Shin’ya und Ryou schnell näher. Erfreulicherweise leben sie beide in Japan und zeitlich trennt sie nur 1 Stunde. Mit Shin’yas Hilfe überwindet Ryou ihre Sprachprobleme und als er eines Tages zufällig geschäftlich nach Tokyo kommt, beschließen sie sich zu treffen. Doch bei dem Treffen läuft etwas schief und Ryous einzige Chance ist – mit dem Zeitvorteil im Nacken – das Schicksal herauszufordern …

Der raffiniert konstruierte, vielschichtige Manga entwickelt beim Lesen einen unheimlichen Sog. Was mit dem „Telefonieren im Kopf“ zunächst mysteriös und rätselhaft beginnt, verwandelt sich durch die ernsten, nachdenklich stimmenden Gespräche zwischen Shin’ya und Ryou mehr und mehr zum Melodram, nur um gegen Schluss wieder eine völlig neue Richtung einzuschlagen und sich als atemloser Thriller zu entpuppen. Als Vorlage diente eine Kurzgeschichte von Autor Otsuichi, die übrigens von Tsuzuki Setsuri ebenfalls als Manga adaptiert wurde (Calling You Bd.1, Panini 2007).


Beurteilung der Zeichnung / Textdarstellung
Was mir bei Hiro Kiyohara – eine Mangaka, die mir bislang noch unbekannt war – sofort auffiel, war der realistische Zeichenstil, der schnörkellos und unaufdringlich ist und gänzlich ohne Überbetonungen, Chibis (Verniedlichungen), ausgeschmückte Hintergründe oder sonstigem Schnickschnack auskommt. Die Strichführung ist elegant, gestochen scharf und zeitlos. Schaut man in die Gesichter der Protagonisten, so drücken die Augen - die mal schmal und dann wieder rund aussehen können - sowie die Mimik jede Gefühlsregung genauso gut aus, als wenn einem anderswo verzerrte Grimassen oder lange Schraffurlinien in den Gesichtern begegnen. Die einzigen stilistischen Ausdrucksformen, denen sich die Mangaka hin und wieder bedient, sind hellere, grobkörnige Darstellungen und großflächige Rasterunterlegungen bei den Gesichtern, wenn es die Situation erfordert. Sehr realistisch empfand ich auch die durchweg schwarzen glatten Haare der Protagonisten, ihre zierlichen, schmalen Figuren und die Gesichtsformen, die ich eindeutig mehr mit Asiaten als mit Europäern in Verbindung bringe.
Sind die Figuren in eine weitläufige Perspektive eingebettet, so rücken Computergrafiken mit städtischen oder landschaftlichen Hintergründen groß ins Bild, doch überwiegend sind es die Akteure, die im Mittelpunkt stehen und in Groß- bzw. Nahaufnahme erscheinen. In dem Fall dienen dezente, schattierte Hintergründe lediglich zur Stimmungsuntermalung, so dass sich der Blick ganz auf das Geschehen richten und nichts Störendes davon ablenken kann. Als großes Plus empfand ich die variantenreichen Bildzuschnitte oder die Aufteilung eines Bildes in zwei Panels. Ebenso gefiel mir, dass bei diagonalen/schrägen Panels die Perspektive manchmal ebenfalls schief ist. Die in die Geschichte eingeschobenen Rückblicke unterscheiden sich mit schwarzen Bildzwischenräumen von den weißen der Gegenwartshandlung.

In diesem Manga möchte ich ganz besonders auf Textdarstellungen, Übersetzung und Lettering eingehen. Da hier oft nur „im Geiste“ telefoniert bzw. kommuniziert wird, ist es unheimlich interessant zu sehen, wie Hiro Kiyohara dieses Problem in der Darstellung löst. Direkte Reden haben in dem Manga wie üblich ovale Sprechblasen und sind leicht von den imaginären Telefongesprächen in mehreckigen Textblasen zu trennen, letztere haben sowohl einfache als auch doppelte Umrandungslinien. Der im Bild zu sehenden sprechenden Person ist die einfache, der anderen Person in der „Leitung“ dagegen die doppelte Umrandung zugeordnet. Gedankenblasen wiederum haben weiche, verwischte Konturen und Erzähltexte sind in rechteckige Textblasen gesetzt. Alles in allem mag das jetzt verwirrend klingen, stellt beim Lesen aber wirklich kein Problem dar. Geräuschzeichen gibt es nur ganz wenige, was für japanische Verhältnisse eher ungewöhnlich ist; meistens sind sie recht klein und fallen nicht weiter auf.
Durch die wieder mal ein wenig unsensible Übersetzung kommt es zu einem (unnötigen) Durcheinander mit den Anredeformen. Es ist lobenswert und realistisch, dass Harada, Ryou und Shin’ya sich gegenseitig höflich mit der Endung „-san“ ansprechen, gäbe es nicht die Ausnahme von Shin’ya, der Ryou ohne diese Endung anredet, was eindeutig ein Übersetzungsfehler ist, zumal es da auch wieder eine Ausnahme gibt, wo er sie dann plötzlich Ryou-san ruft. Beim Lettering gibt es ein paar Tipp-/Rechtschreibfehler zu vermelden, der peinlichste steckt wohl in der Inhaltsangabe auf dem rückwärtigen Cover, wo Ryous Name falsch geschrieben ist.


Aufmachung des Manga
Hier handelt es sich um die übliche, kleinformatige Taschenbuchausgabe. Die Seiten im Innenteil sind aus gräulichem, rauem Papier, die Druckqualität solide, denn trotz dem hohen Anteil an Schwarz, färbt die Druckerschwärze beim Lesen nicht auf die Finger ab. Nach einem dreiseitigen Titelbild in schwarz-weiß folgt zunächst das Inhaltsverzeichnis, bevor die in 5 Kapitel plus Bonuskapitel geteilte Geschichte beginnt. Ungewöhnlich ist der Verzicht auf illustrierte Kapitelbilder, die Kapitelunterteilung erfolgt mit schlichten, weißen Trennblättern. Den Schluss bildet ein doppelseitiges informatives Nachwort des Autors, diverse Verlagswerbung für weitere Mangas und schließlich der Hinweis an Genreeinsteiger, wie japanische Mangas zu lesen sind.

Das für den Manga gewählte durchscheinende Titelbild zieht gerade mit seiner Unauffälligkeit die Blicke auf sich. Ryous skizzenhaftes, mit zartgrauen Linien umrissenes Porträt ist vor dem weißen Hintergrund kaum wahrzunehmen; die blauen japanischen Schriftzeichen am rechten Rand und der Titel in Schwarz in der linken unteren Ecke wirken wie eine kontrastierende Einrahmung. Ich finde die Covergestaltung sehr ansprechend und gelungen, sie passt hervorragend zum anspruchsvollen Inhalt.
Die ebenfalls weiße Rückseite ist in zwei Spalten geteilt und mit blauer Schrift bedruckt. Auf der linken Seite wiederholen sich die japanischen Schriftzeichen, rechts ist die Inhaltsangabe aufgedruckt.


Fazit
Mysteriös, berührend, fesselnd, tragisch – „Can you hear me?“ ist eine klare Kaufempfehlung für alle, die hohe Ansprüche an Mangas stellen. Mit einem für einen Einzelband erstaunlich ausgereiften Plot und der bestechend schönen, realistischen Optik funkelt der Manga wie ein kostbarer Diamant aus der Masse hervor. Einen kleinen Abzug in der Bewertung gibt es für Fehler in Übersetzung und Lettering.


4 5 Sterne


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