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„Steht es mir noch zu, mein Leben gegen ein anderes einzutauschen? Ein neues Tor zu öffnen und einen anderen Weg zu finden?“
Gabriel entflieht der Schweigewelt seiner jüdisch-ungarischen Eltern – nur um sich dann selbst im Verschweigen einzurichten. Das geht nicht gut. In Jean Matterns Debütroman stellt die Lebenskrise alles in Frage, bevor die Arbeit der Selbstvergewisserung beginnen kann, vorsichtig tastend.

 

  Autor: Jean Mattern
Verlag: Insel Verlag
Erschienen: 15. März 2010
ISBN: 3458174664
Seitenzahl: 124 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Nach dem Tod seiner Schwester richtet sich Gabriel, zu diesem Zeitpunkt ist er zehn Jahre alt, in einer schweigsamen Welt ein. Mit dem Begräbnis von Marianne werden auch die schmerzvollen Worte zu Grabe getragen. Die Eltern ertragen den Tod der Tochter stoisch mit „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen“. Dieser Bibelvers aus dem Buch Hiob begleitet Gabriel sein ganzes Leben. Später, als Gabriel anfängt über sich, seine Familie, seine Schwester nachzudenken und bei den Eltern nachzuforschen, warum sie hinter seinem Rücken ungarisch sprechen, aber nie in seiner Gegenwart oder gar mit ihm, wird es lapidar mit einem „ist schon zu lang her“ abgetan. Wir erfahren, dass sie aus Ungarn nach Frankreich emigrierten, werden aber über die Hintergründe des Umzuges und die Verschwiegenheit desselben im Unklaren gelassen.
Gabriel flieht von Frankreich nach England und sucht nach den Worten, die er in der Heimat in seiner Muttersprache zu keiner Zeit je gefunden hat. Während des Studiums freundet er sich mit Leo an, einem Seelenverwandten – ein ebenso verwaister Bruder, nur dass Leo über den Tod seiner Schwester offen reden kann und Gabriel ihn dafür bewundert. Irgendwann taucht Laura auf, in die er sich verliebt. Dank ihrer Extrovertiertheit gelingt es ihm, vorübergehend den Kokon des Schweigens zu verlassen. Jahre später, Gabriel und Laura sind inzwischen verheiratet, entdeckt er bei einem Kolloquium in Ungarn das Grab seines Großvaters. Ihm wird bewusst, durch das Schweigen seiner Eltern fehle ihm die eigene Vergangenheit und dadurch werde seine Zukunft in Frage gestellt. Er verlässt seine schwangere Frau und begibt sich ein zweites Mal nach Ungarn, um seine Lebensgeschichte aufzuspüren.


Stil und Sprache
Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff bemerkte jüngst auf der „1. Hamburger Begegnung“, die Teufelei unserer Zeit sei die Vagheit. Ein Bonmot, der den Roman von Jean Mattern hinreichend beschreibt. Die Krise, die seinem Protagonisten Gabriel widerfährt und im Klappentext versprochen wird, ist nicht greifbar. Zu viele farblose Fäden, die, nachdem sie aufgenommen, schnell wieder fallengelassen werden. Der Minimalismus, die nicht vorhandene Psychologisierung, lassen in diesem Falle leider auch keinen Spielraum für eigene Gedanken. Eine ansatzweise Deutung des Werks wird vom Autor schnell wieder unterbunden. Er verstrickt sich in Redundanz und erzählt dennoch wenig. Fakten und Ereignisse werden dem Leser untergeschoben, wie das plötzliche Erscheinen Lauras und kurze Zeit später ihre Schwangerschaft, die ihn vollkommen aus der Bahn wirft. Ein bisschen mehr Länge und Ausführlichkeit hätten dem Roman gut getan, denn die Ansätze sind durchaus lesenswert und auch die Idee, Schweigen in Worte zu kleiden, ist eminent. Denn schon Nibbrig erklärte in seiner „Rhetorik des Schweigens“, dass das Schweigen niemals Nichts sagt, sondern als ein Ausdruck der Kommunikationsverweigerung oder gar als Form der Mitteilung in Nachbarschaft zur Rede zu verstehen sei. Leider ist dieser Versuch missglückt, denn die Einstellungen zum Wort selbst sind höchst vielgestaltig: Es besteht eine innere Bewegtheit zwischen der Hingabe an das Wort und um das Bestreben nach Distanz. Gabriel schwankt ständig zwischen Hingabe und Distanz. Erklärt er uns zunächst redselig, wie er in seinen Wörterbüchern nach dem adäquaten Wort, die Grammatik der Geschehnisse sucht, geht er gleich wieder auf Distanz zu sich selbst und dem Leser. Es mangelt in dieser Erzählwelt nicht an Fülle einzelner Geschichten, sondern an deren Detailreichtum.
Die Suche nach Gabriels Herkunft, die Entdeckung des Judentums seiner ungarischen Familie, sowie deren Konversion böten unendlich viel Stoff, versiegen aber leider irgendwo in dem sandig-staubigen Boden des Romans.


Figuren
Schauplätze, Milieu und Atmosphäre fehlen gänzlich. Abgesehen von seinem Freund Leo und seiner Frau Laura, die die Geschichte ein wenig mittragen, ist das Figurenpersonal auf ein Minimum beschränkt. Der Protagonist, ein unbedeutender Übersetzer, der Doktor Faustus ins Französische neu übertragen und sich somit einen Achtungserfolg erhofft, ist besessen von diesem Gedanken und der Geschichte Thomas Manns. Man wird den Verdacht nicht los, er sei nur Übersetzer geworden, um sich hinter den Worten der Erfolgreichen verstecken zu können. Seine stumme Kindheit hat ihn zu einem gesellschaftlichen Eremiten werden lassen.
Anscheinend bevorzugt Jean Mattern blasse Figuren und viel Artifizielles. Sowohl die Figuren als auch die Welt, in der sie sich bewegen, überzeugen nicht - im Gegenteil, sie entpuppen sich als mühsam geschaffene Hilfskonstruktionen mit einem guten Schuss Manieriertheit.


Fazit
Der Klappentext verspricht ein geistiges und ästhetisches Abenteuer. Die hohe Erwartung wird leider enttäuscht. Gabriel ist ein regressiver Ich-Erzähler, der in einem schnörkellosen und gefühlsfreien Bericht seine Geschichte darbietet, die eigentlich niemanden interessiert, da sie weder über einen Anfang geschweige über ein Ende verfügt. Dabei hätte es ein großartiges Buch zu einem großartigen Thema werden können. Die Heimatlosigkeit der Eltern, das Verdrängen der Herkunft, die Integration des Kindes durch eine fremde Sprache und Kultur ohne die eigene zu kennen und die doch in den Eltern weiterlebt. Man könnte meinen, dem Autor fehle der Mut, die Dinge beim Namen zu nennen.
„Wenn es mir gelingt, werden die Straßen von London zur bloßen Kulisse.“ Es ist ihm gelungen. Das Buch ist eine einzige Kulisse.


2 5 Sterne


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