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Viktor, ehemaliger ‚Jungunternehmer des Jahres‘, sieht sich nach seinem Konkurs und weiteren beruflichen Misserfolgen auch privat ungeahnten Schwierigkeiten gegenüber: seine Ex-Frauen machen gegen ihn mobil und schaffen es, auch seine acht Kinder gegen ihn aufzubringen. In diesem Dilemma erkennt er immer mehr die Wiederholung seiner Familiengeschichte: väterlicherseits jüdischer Abstammung (viele von ihnen wurden ermordet), mütterlicherseits aus altem, ungarischen Adelsgeschlecht, hatte diese Familie immer gegen Verfolgung, Denunziationen, Diskriminierung und Intrigen zu kämpfen. Seine letzte Kraft sammelnd schreibt Viktor seiner Seelenfreundin Helena - bald schon entwickelt sich ein reger E-Mail-Verkehr zwischen den beiden, in dem er ihr alle seine Erlebnisse, Erfahrungen und  tiefsten Seelenzustände nach und nach und in betroffen machender Offenheit schildert und in dem es am Schluss zu einer überraschenden Wendung kommt …

 

  Herausgeberin: Helena Papandreous
Verlag: Rainer Fuchs Schriften
Erschienen: 29.05.2008
ISBN: 978-3-9502529-0-3
Seitenzahl: 694 Seiten 


Die Grundidee der Handlung
In diesem Buch geht es um Viktor und die Erlebnisse in seinem Leben. Aufgewachsen unter schwierigen Bedingungen, hat er 3 Ehen und mehrere Beziehungen geführt und ist Vater von 8 Kindern. Einst sehr erfolgreicher und gepriesener Unternehmer, musste er vor 15 Jahren Konkurs anmelden. Hiermit begann seine Spirale abwärts: die Ehe mit Ariadne wurde zunehmend zur Qual, kein Arbeitgeber war mehr bereit ihn einzustellen, seine Bücher verkauften sich nicht so wie erhofft und auch seine Selbstfindungskurse ließen den gewünschten Erfolg vermissen.
Als sich Viktor von Ariadne scheiden lässt, kündigt die gekränkte Ehefrau an, ihn völlig zu vernichten. Systematisch beginnt sie, ihn massiv zu denunzieren, bringt sämtliche Freunde, Familienmitglieder, insbesondere seine Kinder, und auch ehemalige Kunden gegen ihn auf und spinnt ein Netz aus Lügen. Und so wird Viktor zum Außenseiter und zum Ausgestoßenen, der in dieser Gesellschaft keine Chance mehr bekommt.

Viktor wendet sich an seine Freundin aus einer früheren Beziehung, Helena, und klagt in Briefen über sein Leid, erzählt aus seinem abwechslungsreichen und spannenden Leben, geht gegen die europäische und amerikanische Wirtschafts- und Leistungskultur und den herrschenden Materialismus an und schreibt über viele Wahrheiten und Tabuthemen, die in dieser Gesellschaft so nicht zur Sprache kommen (dürfen) und über die geschwiegen wird. Er prangert an, dass der Einzelne in dieser Wirtschaftsgesellschaft immer  zu funktionieren hat, dass Jammern, Selbstmitleid, Trauer und das Zeigen von Gefühlen in dieser immer schneller und härter werdenden Gesellschaft verpönt sind.

Dieses Buch ist eine Hommage an missbrauchte Menschenseelen, an Ausgestoßene der Gesellschaft, an die Opfer der Zivilisation und des „sauberen“ Bürgertums. Dieses Buch ist aber auch ein erschreckendes und tiefgründiges Gesellschaftsportrait, in dem sehr viele Themen aus verschiedenen Bereichen tabulos angesprochen werden. Es werden Wege zu mehr Menschlichkeit und zu mehr Verständnis aufgezeigt, es wird an Herzensgüte appelliert und aufgefordert, Gefühle zu zeigen und zu leben.

Zudem birgt dieses Werk so einiges an Spiritualität in sich, war Viktor doch ab dem 21. Lebensjahr ein Schüler des indischen Gurus Sathya Sai Baba. Viele von dessen Weisheiten kommen hier unaufdringlich zum Tragen.


Stil und Sprache
Bei diesem Buch handelt es sich um einen Briefroman, das heißt, die Inhalte werden vollständig als Briefe dargeboten, die von Viktor verfasst wurden. Die Antworten auf diese Briefe und in an Viktor gestellte Fragen und herangetragenen Probleme lassen sich nur darin erkenne, indem diese in seinen Schreiben aufgegriffen werden. Die 74 Briefe haben sehr unterschiedliche Längen und variieren regelmäßig zwischen einer halben und einem Dutzend Seiten. Eine Besonderheit ist Brief 73, der mit 252 Seiten Viktors längstes Schreiben ist, für den Leser aber mit einer Überraschung aufwartet, die ihn kalt erwischt.

Einen Spannungsbogen, wie man ihn aus anderer Romanliteratur kennt, wird man in diesem Buch nicht finden. Es gibt keine klassische Spannung, vielmehr fesseln die Erzählungen durch ihre Dramatik und durch die Themenwahlen, bei denen sich jeder Leser wiederfinden kann. Trotzdem oder gerade deshalb legt man das Buch nicht gern aus der Hand. Da die Inhalte jedoch oftmals „schwere Kost“ sind, kann man dieses Buch nicht in dem Maße herunterlesen, wie man es z.B. von einem Thriller gewohnt ist. Vielmehr sollte sich der Leser die Zeit nehmen, das Werk hin und wieder beiseite zu legen und über das Gelesene zu reflektieren.

Auch ist ein durchgängiger roter Faden nicht auf Anhieb zu erkennen, da Viktor mal über Begebenheiten in der Gegenwart oder der Vergangenheit, mal über seine Gefühle und mal über Spirituelles berichtet. Manche Inhalte werden an anderen Stellen regelmäßig wiederholt, ohne dass dies langweilig wirkt. Durch diesen Stil der Schilderungen wirkt das Gesamtkonzept sehr natürlich und realistisch, dieses Hin und Her entspricht einerseits den Gefühlsregungen eines Menschen, durch seine Widersprüche und Gefühlslagen lernt man den Verfasser der Briefe und weitere Beteiligte von allen Seiten kennen. Andererseits fügen sich auf diese Weise nach und nach immer mehr Teile wie zu einem Puzzel zusammen.

So ist zum Beispiel Viktors Ansicht über seine Mutter sehr gespalten: im Laufe seiner Briefe werden die enormen Vorzüge, die Stärke und die Liebe seiner Mutter den negativen Seiten – zeitweise Abschiebung der Kinder in andere Familien, Verrat oder folterähnliche Bestrafungen  - gegenübergestellt. Viktor verurteilt ihren Stolz auf die arische Herkunft, während sich seine Mutter gleichzeitig für ihren Ehemann schämt, der jüdischer Herkunft ist und im zweiten Weltkrieg nur durch Lügen und Flucht überleben konnte, während über 50 seiner Familienmitglieder getötet wurden. So fühlte sich dieser wie mit „dem Feind verheiratet“.

Sehr deutlich ist die Entwicklung des Protagonisten im Laufe seiner E-Mails, die Spanne reicht von hilfesuchend über verzweifelt, fast aufgebend, kraftlos und erschöpft bis hin zu vorübergehender Todessehnsucht, bei der er von seinem bevorstehenden Ende spricht. Auch scheinen die Schreiben 1 bis 72 nur eine Art Vorbereitung auf Brief 73 zu sein, in dem er mit allem aufräumt, seinen Zorn und seine Verzweiflung ausdrückt und in dem er über alles tabulos schreibt.

Der Schreibstil ist sehr menschlich – die einzelnen Briefe sind formuliert wie man spricht, es finden sich regelmäßig österreichische Ausdrücke und auch Fremdworte, zudem verwendet Viktor Wiederholungen von Satzteilen, um mit Nachdruck auf etwas hinzuweisen, was ihm besonders wichtig ist. Der Lesefluss ist nicht immer einfach, werden doch Zusätze durch Gedankenstriche und Klammern eingefügt, die immer wieder ein wenig aus dem Zusammenhang reißen (können). Hier bedarf es konzentriertem Lesen. Das Lesetempo passt sich den jeweiligen Gefühlen an, steigt beim Ausdruck von Zorn und beruhigt sich dann wieder.

Auffällig ist die stille Anonymität: mit Ausnahme von Sathya Sai Baba werden die einzelnen Personen nur mit Vornamen erwähnt, auch die Städte, in denen die Handlungen spielen, werden nicht offenbart. So lebt z.B. Viktor in der „Stadt am großen Strome“, seine Mutter in der „Stadt am Berg“.

Zudem springt dem Leser in stetiger Regelmäßigkeit die formulierte Bitte, Helena endlich einmal treffen zu dürfen, ins Auge. Dies stellt für Viktor den letzten Strohhalm, die letzte Kraftanstrengung nach dar.

Viele Briefe enden mit einem Spruch bzw. einer Weisheit, die nicht immer leicht zu verstehen sind. Auch finden sich in oder nach den Briefen Gedichte der Großmutter, die Viktor rezitiert. Sehr interessant sind zum Ende vieler E-Mails Beschreibungen seiner Gemütslage, so fühlt er sich beispielsweise wie eine Schildkröte nach einem Winterschlaf, wie ein schlaffes Segel oder wie ein Stück Metall, das geformt wird. Auf die häufigen Nachfrage, wie es ihm geht, antwortet Viktor immer, dass ihm kalt sei. Hier steckt ein tieferer Sinn hinter, der sich dem Leser später offenbart.


Figuren
Die wichtigste Figur ist natürlich Viktor, der Briefeschreiber. Im Laufe des Buches begleitet man ihn durch sein abwechslungsreiches und spannendes Leben, erfährt viel über seine rebellische Kindheit und Jugend, über seinen Missbrauch durch Dritte, über Drogenkonsum und Verwahrlosung, aber auch über seine Rolle als Freidenker. Man liest von seiner Ausbildung als Schüler von Sathya Sai Baba, seinen Visionen und seinen Erfolgen, aber insbesondere auch seinen Misserfolgen und Fehlschlägen. Die Gefühlswelt des Protagonisten erlebt der Leser intensiv mit, nimmt an Viktors glücklichen Momenten teil, begleitet ihn aber auch so sehr in die Tiefen seiner Seele und seines Schmerzes, dass es betroffen macht. Seinen Zorn beschreibt der Protagonist oftmals in Form eines mysteriösen, großen schwarzen Vogels, der immer wieder erwähnt wird. Kurios ist, dass man zum Ende des Buches alles über Viktor weiß, mit einer Ausnahme: kennt man auch seine Gefühlswelt und seine äußeren Umstände, so kennt man doch nie sein Aussehen.

Helena ist die Adressatin all dieser Schreiben. Auch über sie erfährt der Leser im Laufe des Buches sehr viel, so zum Beispiel von ihrer ehemaligen Beziehung zu Viktor. Indem Viktor auf ihre Fragen, ihre Probleme und ihre Gefühle eingeht, kann man sich auch über sie nach und nach ein gewisses Bild machen.


Aufmachung des Buches
Der Briefroman „Viktor, der Himmel weint nicht mehr“, ist derzeit nur als Taschenbuch erhältlich. Mir fiel besonders die außergewöhnliche Verarbeitung des Buches auf. So sind zum Beispiel nach dem Durchlesen nicht die für ein Taschenbuch typischen Knicke im Buchrücken zu finden.

Das Cover ist schlicht, aber ansprechend gestaltet. Aufgeteilt in vier Felder, ist der obere Teil in braun und schwarzem Hintergrund gehalten, in dem der Titel und der Name der Herausgeberin in weißer Schrift aufgedruckt sind. Unten links findet sich ein dunkles, vage angedeutetes Foto von einem Gesichtsausschnitt, daneben eine Nahaufnahme einer Vogelfeder mit einem Wassertropfen, der wie eine Lupe einen Teil der Feder vergrößert. Diese Nahaufnahme bezieht sich offensichtlich auf Viktors großen schwarzen Vogel.

Die Briefe sind einzeln durchnummeriert und teilweise mit einem Titel versehen. Über das Buch verteilt finden sich 29 fotografisch festgehaltene Momentaufnahmen, die von 23 Kindern und Jugendlichen gemacht worden und mit Bildtiteln versehen sind. Eine Erklärung zu diesen Aufnahmen findet sich auch im Prolog des Buches.

Die Schrift ist insgesamt sehr klein gehalten, so dass bis zu 42 Zeilen pro Seite abgedruckt sind.


Fazit
Dieses Buch ist anspruchsvoll, eine Herausforderung, keine Unterhaltungsliteratur, sondern vielmehr ein erschreckendes Portrait der westlichen Leistungs- und Wirtschaftswelt, ein Apell zu mehr Menschlichkeit und Herzlichkeit, aber auch eine Reise in die Tiefen von Viktors Gefühlswelt. Dabei erstaunt, in wie vielerlei Hinsicht sich jeder Leser hier selbst finden kann. Zudem eignen sich die Inhalte nicht zum „Runter-Lesen“, immer wieder muss oder sollte man zumindest über vieles nachdenken und reflektieren. Auch wenn viele  – aus mannigfaltigen Gründen – lieber zu einfacherer und bequemerer Literatur greifen, sei dieser Briefroman wirklich jedem wärmstens empfohlen. Wer sich auf dieses Buch einlässt, erweitert vielleicht seine Sichtweisen, wird aber zumindest von dem tief berührt, was er hier zu lesen bekommt.


4 5 Sterne


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