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China im Aufschwung.
Alle wollen reich werden, mit allen Mitteln, seien sie auch noch so absurd. So auch die Brüder Li und Song. Li ist ein cleverer Geschäftsmann, Song dagegen ein Zauderer. Der eine handelt mit Müll. Der andere verkauft Gel zur Brustvergrößerung. Eine schwarze Komödie voller Witz und Alltagsgroteske. Yu Hua ist der bedeutendste Erzähler Chinas und >Brüder< ein literarischer Funkenflug.

 

  Autor: Yu Hua
Verlag: S. Fischer Verlag
Erschienen: 5. August 2009
ISBN: 3100958039
Seitenzahl: 765 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Angekündigt wird die Geschichte Chinas der letzten vierzig Jahre, von der Großen Kulturrevolution bis zum heutigen Kapitalismus. Darin zwei Stiefbrüder, Glatzkopf-Li und Song Gang, die unterschiedlicher nicht sein können. In drehbuchartiger Manier erklärt uns der Erzähler die Lebensgeschichten der beiden Brüder. Glatzkopf-Li, triebgesteuert und geschäftstüchtig, hat als Jugendlicher den Hintern der Dorfschönsten Lin Hong in der öffentlichen Latrine ausspioniert und den hinreißenden Anblick gegen die „Nudeln der Drei Köstlichkeiten“ an die lüstern sabbernden männlichen Dorfbewohner verkauft. Er gehört zu denjenigen, die im späteren Materialismus aus Müll Kapital schlagen. Song Gang hingegen ist der ruhigere, der besonnenere der beiden Brüder. Er heiratet zwar die Dorfschönheit, der einzige Sieg gegen seinen Bruder, der Lin Hong ebenso begehrt, scheitert aber am unaufhaltsamen Aufstieg des Kapitalismus‘. Er verliert seinen Job bei einer staatlichen Metallwarenfabrik, seine Frau wird zur Alleinverdienerin und muss sich den sexuellen Belästigungen ihres Direktors fügen, damit sie ihre Arbeit behält.
Song Gang nimmt diverse Gelegenheitsjobs an, unter anderem einen Job in einer Zementfabrik, den kein anderer will, und ruiniert sich damit seine Lunge. Er fasst den Entschluss, sich einem windigen Geschäftsmann, der in „ihrer kleinen Stadt Liuzhen“ Plastik-Hymen bei einem Schönheitswettbewerb für Jungfrauen verkauft, anzuvertrauen, und reist mit ihm durch das Land, um Potenzpillen und Brustvergrößerungscremes an den Mann bzw. an die Frau zu bringen. Dabei schreckt er nicht davor zurück, sich seine Brüste vergrößern zu lassen…


Stil und Sprache
>Brüder< ist ein Buch der drastischen Gegensätze. Yu Hua lässt dabei nichts aus: Freundschaft und Feindschaft, Liebe und Hass, reich und arm, integer und korrupt. Bedauerlicherweise hat der Autor das so offensichtlich angelegt, dass der Roman dadurch zu einer vorhersehbaren Farce verkommt. Darüber hinaus zelebriert Yu Hua eine unmenschliche Brutalität: „Er atmete tief durch, drückte mit der linken Hand den Nagel auf seinen Scheitel und ergriff mit der rechten den Ziegelstein. (…) Dann sauste der Stein auf den Nagel und durchbohrte die Schädeldecke. Dennoch vermochte er nach wie vor klar zu denken. (…) Mit dem zweiten Schlag trieb er den Nagel noch ein Stück weiter hinein, bis ans Hirn.“ Wer sich jetzt schon gruselt, dem sei gesagt, dies hier ist eine der harmloseren Grausamkeiten.

Die Erzählung der Stiefbrüder Li und Song, die der allwissende Erzähler von Kindesbeinen an begleitet, von ihrem Weg durch die Kulturrevolution bis hin zur Öffnung Chinas, vom Kommunismus zum Kapitalismus, ist eine Erzählung voller Exzesse und Extremismus, geschmückt mit dummen Witz und derber Pornografie. Das grobmotorige Aufzeigen, wie eng Freud und Leid beieinander liegen, lassen dieses Buch berechenbar werden. Angefangen mit dem ehelichen Glück Song Fanpings und Li Lans, beide verwitwet, bringen sie ihre Söhne Glatzkopf-Li und Song Gang mit in die, für damalige Verhältnisse ungewöhnliche, zweite Ehe. Song Fanping, zunächst Anführer der Demonstrationsmärsche für Mao in „ihrer kleinen Stadt Liuzhen“, wird schnell zum Klassenfeind, als man entdeckt, er sei ein „Grundbesitzer“. Seine einstigen Freunde entwickeln sich zu Monstern, bis er schließlich von den „Roten Garden“ mit einer diabolischen Gnadenlosigkeit zu Tode getreten und geprügelt wird. Übrig bleibt eine breiige Masse des einst so stattlichen Song Fanpings.

Auch der Lebensweg der beiden Brüder, der eine von Kindesbeinen an ein gewiefter Geschäftsmann, der andere ein naiver Träumer, ist absehbar. Der eine wird „Super-Multi-Millionär“, der andere Selbstmörder.
Ebenso bleibt der zweite Teil dieses Romans, der die politischen und sozialen Umbrüche beschreibt, hinter der einfachen Sprache, die krude und grotesk daher kommt, zurück. Es ist schade, wie das Thema über die gewaltigen Umwälzungen in seiner Geschmacklosigkeit zu einer barbarischen Posse verkommt. Yu Hua demonstriert in dem Mikrokosmos „unserer kleinen Stadt Liuzhen“ in einer trivialen Erzählung, der der ästhetische Impuls gänzlich fehlt, die jüngste Geschichte Chinas. Der Autor zeichnet ein einseitiges und diffuses Bild seines Heimatlandes. Wer keine genauen Vorstellungen von dem Land und seiner Kultur hat, ist hier vollends verloren. Kein profundes Eindringen in die Historie, dafür werden uns Dynastien und Sagenfiguren auch aus fremden Kulturen, wie zum Beispiel der Vogel Roch, der aus dem Arabischen entliehen ist, an den Kopf geworfen; der Zeitenwandel wird durch die Nennung von Geburtenkontrolle, Beatles und Michael Jackson, Flüssigkristallfernseher, und so weiter, markiert.


Figuren
Obwohl die Brüder als Kinder mit ansehen müssen, wie ihr Vater von den „Roten Armbinden“ misshandelt wird, scheint es, als habe die Brutalität weder in ihnen noch in den Bewohnern „ihrer kleinen Stadt Liuzhen“ Spuren hinterlassen. Immerhin sind es die Kinder, die ihren blutüberströmten, zerschundenen, toten Vater vom Busbahnhof mit einem Karren, Rotz und Wasser heulend, nach Hause bringen. Ein Trauma, das normalerweise niemand vergisst.
Die Figuren erinnern eher an Marionetten, als an wahrhaftige Lebewesen. Yu Hua unterbindet jede Entwicklung seiner Figuren, anstelle dessen werden uns die Charaktere vorgekaut serviert. Glatzkopf-Li, schon immer arrogant, schon immer der Stärkere, schon immer ein sexbesessenes Monster; Song Gang, schon immer ein Bauernjunge, schon immer ein Träumer, schon immer lebensmüde. Die Brüder, die die Gegensätzlichkeit der letzten vierzig Jahre Chinas, von der Mao-Diktatur bis hin zur neuen Weltlichkeit verkörpern, bleiben ebenso eindimensional wie die Geschichte Chinas selbst.


Fazit
Den tiefgründigen Witz und den schwarzen Humor, der uns eingangs versprochen wird, muss man in diesem Buch lange suchen. Man wird ihn nicht finden. Stattdessen rückt eine plumpe Albernheit und ein vermeintliches Anklagen des kapitalistischen Alltags in den Vordergrund.

Die Brutalität und Derbheit kann jedoch nicht verschleiern, dass >Brüder< ein Buch ohne Tiefgang ist. Dennoch scheint Yu Hua ein Gespür für solch burleske Geschichten zu haben, zeigt sich doch, dass das Buch in China über 1,5 Millionen mal verkauft wurde und somit zum Bestseller avanciert ist. Für westliche Leser ist es mühevoll, bis zum Schluss durchzuhalten. Die vielen Redundanzen, die intensiven Beschreibungen sämtlicher Körperöffnungen und die aufdringliche Maßlosigkeit machen dieses Buch zu keinem Lesevergnügen.
Yu Huas epischer Gesellschaftsroman scheitert nicht nur an der literarischen Dissonanz, sondern auch an dem misslungenen Einstieg in das Literaturland China.


1 Stern


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