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Ein einziger Tag in ihrer Kindheit, so scheint es, hat über ihr ganzes Leben entschieden. An einem solchen Tag verlor Alice für immer ihre Lebenslust und das Vertrauen zu ihrem halsstarrigen Vater. Mattia hingegen verlor mit sechs Jahren seine Schwester, deren Hilfsbedürftigkeit er nur ein einziges Mal missachtete. Seither quälen ihn Schuldgefühle, an die er niemanden heranlässt.
Sieben Jahre später lernen Mattia und Alice sich auf dem Gymnasium kennen. Die Anziehungskraft zwischen beiden scheint unwiderstehlich. Alice ist der einzige Mensch, dem Mattia wenigstens einmal seinen Schmerz zu offenbaren wagt. Doch mit den Jahren werden die Hindernisse, die sie einander unbewusst in den Weg legen, höher und höher.

 

  Autor: Paolo Giordano
Verlag: Karl Blessing Verlag, München
Erschienen: 2009
ISBN: 978-3-89667-397-8
Seitenzahl: 363 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Die Grundidee des Romans ist schnell erzählt: Zwei Außenseiter treffen sich im Gymnasium und versuchen zusammen die Welt zu vergessen. Auf der einen Seite die schöne Alice, die aber durch die Folgen eines Skiunfalls hinkt und versucht, diese körperliche Schwäche mit einem übertriebenen Körperkult wett zu machen. Auf der anderen Seite der von Schuldgefühlen geplagte Mattia, der das Verschwinden seiner Schwester auf dem Gewissen hat und sich zeitweilig nur noch selbst spürt, in dem er seinem Körper Verletzungen zufügt. Beide fühlen sich einsam und zueinander hingezogen. Für beide wird der Andere zur wichtigsten Person der Welt, zur einzigen Möglichkeit, ihrem Außenseitertum zu entfliehen. Und trotzdem können beide nie ganz zusammenfinden, als sei ein "Raum zwischen ihnen", der nur manchmal aufgehoben scheint.

In seinem Buch "Kritik für Leser" hat Volker Hage kürzlich einen seiner Beiträge abgedruckt, in dem es um "Das Ende der Beziehungen" geht. Dort schreibt er "In der neueren Literatur fallen die Paare auseinander, als wäre zusammenleben völlig unrealistisch. Wie sich zwei Menschen begegnen, ist dort kein Thema mehr, wie sie sich verlieren, davon gibt es zahllose Varianten." Ist dieses Buch von Paolo Giordano auch nur so ein zeitgemäßes Werk, in dem es um die Unzulänglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer Paarbeziehung geht? Ich würde sagen nein. Hier beschreibt jemand eine lebenslange Suche und eine Bindung zwischen zwei - auf ihre Weise verzweifelten und lebensunfähigen Menschen -, die sich näher und gleichzeitig ferner nicht sein könnten. Hier geht es nicht um das Zerfallen einer Beziehung, denn eine solche hat ja nie stattgefunden. Hier geht es um die Macht, die traumatische Ereignisse auf den Menschen haben können und um jene Ohnmacht und Verzweiflung, die ein Entrinnen nicht möglich machen.


Stil und Sprache
Giordanos Sprache ist von hoher poetischer Kraft und mit das Gefühlvollste, was ich in den letzten Monaten gelesen habe. Sein Blick geht tief hinein in die aufgewühlten Seelen seiner Protagonisten. Schon in den ersten Kapiteln, in denen er von jenen Ereignissen berichtet, die Alice und Mattia so sehr prägen werden, legt er den Grundstein, dass sich der Leser diesen Figuren nahe fühlt, viel näher als man es eigentlich sein möchte. Seine Sprache geht unter die Haut, ebenso wie die gesamte Geschichte, die er erzählt. Er legt klug und emotional die Verletzungen der Kindheit zu Tage, die die beiden ihr ganzes Leben mit sich herumtragen.
Immer wieder wählt der Physiker Giordano Vergleiche aus der Mathematik: Mattia selbst vergleicht Alice und sich selbst mit Primzahlenzwillingen, die zwar "nahe beieinander stehen und doch immer durch eine Winzigkeit getrennt bleiben". Ist es gerade diese Entferntheit zwischen einer rationalen Wissenschaft und einem Thema wie der Liebe, die diese Vergleiche so überzeugend und tiefsinnig machen? Fest steht, dass durch diese sprachliche Ausgestaltung der Roman erst seine enorme Schönheit entfaltet.


Figuren
Neben der Leuchtkraft seiner Sprache stehen die Figuren, Alice und Mattia, ebenso farbgewaltig dem Figurenensemble vor. Hier hat der junge Italiener eine überzeugende Arbeit abgeliefert, die seinen ersten Roman zu einem überdurchschnittlich guten Roman macht. Eine magersüchtige, lebensmüde Fotografin, die als Kind durch die Hölle ging, um den Anforderungen ihres Vaters zu genügen. Beim verhassten Skifahren wird sie verschüttet und trägt lebenslange Folgen davon. Ein Bein bleibt steif und wird für sie zum Symbol für einen Körper, den sie fortan nicht mehr annehmen kann. Sie straft sich mit Hunger, auch um in der Teenagerclique dazu zu gehören. Dieser Gruppenzwang gipfelt darin, dass Alice von ihrer größten Widersacherin gezwungen wird, ein völlig verdrecktes Bonbon zu essen, das diese vorher durch den Schmutz einer Umkleidekabine gezogen hat.
Daneben Mattia, ein sensibler und hochbegabter Mathematiker, der nur in der Beschäftigung mit Zahlen das Gefühl empfindet, einen "kleinen Teil der Welt in Ordnung gebracht" zu haben. Auch er hat ein Kindheitstrauma erlitten. Um endlich einmal ungestört mit seinen Freunden zu sein, lässt er seine geistig behinderte Zwillingsschwester Michela im Park zurück. Sie taucht nie wieder auf. Mattia wird von schweren Schuldgefühlen geplagt und verletzt sich permanent am eigenen Körper, um einmal einen anderen Schmerz zu fühlen, als diesen Schuld- und Verlustschmerz. Nur ein einziges Mal kann er sich gegenüber Alice öffnen, und lässt diese Schmerz hinaus, "wie ein berstender Damm".
Giordano gelingt es, diese schwierigen Charaktere zu zeichnen, ohne falsches Pathos. Die Motive der Figuren sind stets nachvollziehbar und eindringlich beschrieben. Eine Meisterleistung an Lebensklugheit für einen gerade mal 27-jährigen Autor.


Aufmachung des Buches
Das Buch liegt in einer gebundenen Ausgabe vor. Der Schutzumschlag ist ansprechend gestaltet und zeigt den Kopf einer schönen Frau, so wie man sich Alice vorstellen würde. Die Aufmachung macht auf jeden Fall Lust, das Buch zu kaufen und zu lesen.


Fazit
Paolo Giordanos Roman ist ein Feuerwerk an Poesie, eine fesselnde Erzählung von Liebe, Schuld, Verzweiflung und großer Traurigkeit. Ein Buch über zwei Menschen, denen es unvorstellbare Mühe bereitet, ihr einsames Leben zu bestreiten, deren einziger Trost die Existenz des anderen ist. Ein Trost, dass es solche Bücher gibt.


5 Sterne


Hinweise
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