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Vergänglich ist der Schönheit Glanz,
einst war sie Licht, jetzt heißt sie Schatten,
unwiederbringlich verloren im Glas der Zeit,
gefangen, aufgefordert zum letzten Tanz.
Fließe, Zeit fließe.

Korn um Korn das Leben zerrinnt,
unaufhaltbar versunken im Strudel des Blutes,
einst war sie jung, jetzt ist sie alt,
in Bälde das Netz des Todes entspinnt.
Fließe, Zeit fließe.

Das ew’ge Rätsel gestellt zur nächtlichen Stund,
einst war’s ihr Spiel, jetzt ist’s ihr Ende,
unendlicher Kreislauf von Neuem beginnt,
das Wort, ein Schrei, erschütternd aus ihrem Mund,
Fließe, Zeit fließe.

Verkehrt, der Welt entrückt und wirklich doch,
einst war sie böse, jetzt ist sie gut,
der Lösung nah, ohn’ Umkehr dort, der Traum zerbricht,
durch Dolches Stich, ins Herz der Uhr am Ende noch,
Stehe, Zeit stehe.
(Auszug aus »Das Hexenglas und der Dolch des Todes« des Häretikers Lucius Pranger 1389 A.D.)


George blieb vor dem Antiquitätengeschäft stehen und sah auf die Uhr. Halb acht. Das Ladengeschäft hatte laut Türschild geöffnet.
Glück gehabt, dachte George zufrieden.
Kaum auszudenken, wenn er zu ihrem vierten Jahrestag mit leeren Händen nach Hause gekommen wäre. Heute vor vier Jahren hatten sie sich kennen gelernt und ineinander verliebt. Unsterblich, wie George in seinem Glück gerne und voller Stolz zu sagen pflegte. Lisa war die Liebe seines Lebens.
Er hatte das Büro um Sieben verlassen und wollte auf den Rat seines Freundes Finn nach einem passenden Geschenk für seine Freundin suchen.
»Das verflixte vierte Jahr«, hatte Finn angemerkt.
»Wieso das Vierte? Heißt es denn nicht das Siebte?«
»Nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen ist das kritische Jahr für Beziehungen das Vierte und nicht das Siebte. Das liegt an der Chemie«, hatte Finn auf seiner Aussage beharrt.
»Ach so, das wusste ich nicht«.
»Vergiss es einfach wieder, das ist ohnehin alles nur Unsinn. Bei dir und Lisa ist ja alles in bester Ordnung.«
»Wir lieben uns wie eh und je. Vielleicht mit jedem weiteren Jahr, seit dem wir zusammen sind, noch ein Stück mehr.«
»Und der Sex?«
»Leidenschaftlich.«
»Aha, immer noch. Und wie oft? Ein oder zweimal im Monat?«
»Zwei bis dreimal die Woche«, lächelte George, wohl wissend, dass er Finn damit provozierte, dessen Eheleben bekanntermaßen seit zehn Jahren eingeschlafen war.
»Mann, ich beneide dich, du bist ein echter Glückspilz«, antwortete Finn.
»Was ist mit dem Ratschlag? Kennst du einen Laden oder nicht?«
»Ach so, warte …«, rief Finn.
Der Freund beschrieb George den Weg zu einem Ladengeschäft mit Antiquitäten. Nach Finns Einschätzung handelte es sich um echte Ware und nicht um den nachgemachten Plunder, der nichts wert war und bald wieder auf den Sperrmüll wanderte.

 

 
Das Stundenglas im Schaufenster zog Georges Blicke auf sich.
Roter Sand, ging es George durch den Kopf, eine feine Handarbeit.
Er bewunderte die geschwungene und mit reichlich Schnitzereien versehene Holzfassung, in der die beiden Glaskolben befestigt waren. Das Glas war außen zwar angelaufen und die Lackierung an der Fassung abgegriffen, aber diese Mängel würde er mit etwas handwerklichem Geschick beheben können. Das Glas gereinigt, die Fassung geschliffen und lackiert und schon wäre das Schmuckstück wie neu. Leider war kein Preis an der Sanduhr angebracht. George entschloss sich, im Laden nach dem Preis zu fragen und sich nach der Herkunft der Antiquität zu erkundigen. Keine Frage, Lisa würde sich riesig über das Geschenk freuen. Sie mochte Stundengläser.
»Sie haben etwas Mystisches an sich«, hatte sie einmal zu George gesagt, »und drücken die Vergänglichkeit alles Irdischen aus. Auf eigenartige Weise beruhigen sie mich, wenn ich den Sand beobachte, wie er durch das Glas rinnt.«
Einmal hatte er ihr eine Zahnputzuhr mit nach Hause gebracht. Das Mitbringsel war als Trostpflaster nach einer schmerzhaften Wurzelbehandlung gedacht, die sie zuvor hatte durchleiden müssen. Sie hatte sich zu seiner Überraschung so sehr über die Miniaturausgabe einer Sanduhr gefreut, dass sie ihn aus ihrer stürmischen Umarmung nicht mehr loslassen wollte.


Im Ladengeschäft roch es nach alten Möbeln und Mottenkugeln. Ein muffiger Geruch, der George an die Wohnung seiner Urgroßmutter erinnerte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und ein undefinierbares Gefühl von Unwohlsein machte sich in seinem Magen grummelnd bemerkbar. Als er noch ein kleiner Junge war, hatten er und Mutter die alte Dame ein letztes Mal vor ihrem Ende besucht. Geblieben war die Erinnerung an den Geruch und ein bedrückendes Gefühl von Dunkelheit, Zerfall und Tod. Es mutete ihm seltsam an, dass er sich ausgerechnet in diesem Moment an das gut fünfundzwanzig Jahre zurückliegende Ereignis erinnerte.
»Guten Tag«, grüßte George freundlich den Verkäufer, der ihm den Rücken zugewandt hatte und sich mit einem Staubtuch an einem Regal zu schaffen machte.
»Hm«, brummte der Ladenbesitzer und drehte sich langsam zu dem Kunden um.
Der Mann war alt und trug dicke Brillengläser auf der Nase, hinter denen die trüben Augen wie winzige Knöpfe wirkten. Seine Schultern hatte er bis zu den Ohren hochgezogen und sein Rückenleiden zwang ihn in eine nach vorne gebeugte Haltung. Das schüttere Haar war weiß und wirkte ungepflegt auf George.
George rümpfte die Nase.
»Was wollen Sie?« fragte der Alte mit krächzender Stimme, als habe er drei Schachteln Zigaretten ohne Unterlass hintereinander weggeraucht und eine Flasche Whiskey nachgekippt.
»Das Stundenglas im Schaufenster. Was kostet es?«
»Stundenglas? Wo sagen Sie? Im Schaufenster?«
»Ja genau. Die alte Sanduhr.«
»Alte Sanduhr? Ach …, die meinen Sie. Steht die noch dort? Sagen Sie es doch gleich. Nein, die kostet nichts. Sie ist unverkäuflich.«
»Aber …«, George rang um Fassung und bemühte sich, freundlich zu bleiben, »weshalb stellen Sie das Stundenglas dann ins Schaufenster?«
»Dekoration?« antwortete der Alte, »wer weiß schon, warum jemand etwas Bestimmtes tut oder nicht. Vielleicht gefiel es mir dort im Schaufenster. Möglicherweise wollte ich, dass die Kundschaft das Glas sieht oder ich dachte daran, es aufzuräumen und habe vergessen, es rauszunehmen. Wissen Sie, warum ich das gute Stück dort gelassen habe?«
»Nein!«, George klang genervt.
»Das Stundenglas ist etwas ganz Besonderes, müssen Sie wissen. Es stammt aus dem vierzehnten Jahrhundert. Alter Ketzerbesitz aus Deutschland, während der Inquisition konfisziert und in Kirchenbesitz übergegangen. Später wurde das Glas aus den Schatzkammern des Vatikan entwendet. Man sagt ein Priester habe es gestohlen. Wer weiß. Jedenfalls ist es sehr alt und wertvoll.«
»Und das soll ich Ihnen glauben?«
»Wenn ich es doch sage«, beharrte der Alte, »aber glauben Sie was immer Sie wollen. Auf dem Stundenglas liegt ein Fluch. Der Fluch eines blasphemischen Häretikers, der exkommuniziert wurde. Das ist der Grund, warum ich Sie Ihnen nicht verkaufen kann.«
»Jetzt wird es phantastisch«, Georges Neugierde war geweckt, den abenteuerlichen Unsinn des Ladenbesitzers wollte er sich nicht entgehen lassen, »was hat es mit dem Stundenglas auf sich?«
»Sie wollen die Geschichte hören, junger Mann? Na schön, dann hören Sie gut zu. Ende des vierzehnten Jahrhunderts lebte ein Mann namens Petrus Zwicker. Ein Geistlicher, seines Zeichens Inquisitor. Einer der Kirchenfanatiker, der viele Opfer auf dem Gewissen hatte und seine Seele an den gefallenen Lichtbringer Luzifer verkaufte, indem er im Namen Gottes Menschen foltern und auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ. Eines Tages begegnete er auf der Hexenjagd einer Frau. Ihr Name war Eleonora. Sie war die schönste Blume, die er sich in Gottes Garten Eden überhaupt vorstellen konnte. Eleonora hatte langes, rotes Haar, volle Lippen und sie war groß und schlank gewachsen. Grüne Katzenaugen strahlten aus ihrem Gesicht und die Alabasterhaut trieb ihm beim bloßen Ansehen den Schweiß auf die Stirn. Kurzum, sie war das blühende Leben. Die Sinnlichkeit höchst selbst und die Verkörperung perfekter Weiblichkeit für den Inquisitor. Weil sie so wunderschön war und vielen Männern den Kopf verdrehte, besaß sie Neider. Zumeist anständige Weiber aus den Dörfern, die Eleonora in ihrer Nähe nicht ertragen konnten und ihr lieber die Pocken oder den Tod an den Hals wünschten, als die verstohlenen Blicke ihrer Männer zu ertragen. Eleonora wurde denunziert und geriet in Verdacht, eine Hexe zu sein. Als Petrus Zwicker ihr das erste Mal während einer Befragung gegenüberstand, weckte sie nie gekannte Begehrlichkeiten in ihm. Er wollte sie, ja musste sie haben. Des Nachts schickte sie ihm schmutzige Träume und am Tage während der Verhöre, hätte er nichts lieber getan, als sie angefasst. Er stellte sich vor, wie er sie an sich zog, ihren Duft atmete und ihren Körper umfasste. Mit zitternden Fingern strich er über ihre Haut. Er küsste sie in Gedanken und erkundete im Geiste verbotene Bereiche ihres Körpers mit der Zunge, berührte sie überall dort, wo es ihm niemals gestattet war. Selbst die Flagellation nutzte Petrus nichts. Eleonora war in seinem Kopf, gleichgültig ob er wach war oder träumte. Bald war er fest davon überzeugt, dass sie eine Hexe war. Oft geißelte er sich des Nachts stundenlang in seiner Kammer bis zur Bewusstlosigkeit. Der Rücken des Geistlichen war eine blutende Fleischwunde. Mit jeder weiteren Geißelung wurden alte Wunden aufgerissen und tiefere Furchen hinterlassen. Petrus fürchtete um sein Seelenheil. Die Hexe, und mit ihr die als sündig empfundene Lust, verschwand nicht. Im Gegenteil. Je mehr er sich selbst peinigte, umso schlimmer wurden die Träume und gewagter die Begehrlichkeit. Beinahe jeden Tag seit ihrer Verhaftung durch die Inquisition ließ er sie unter der Folter leiden, obschon sie längst gestanden hatte, eine Hexe zu sein. Sie schrie ihm ins Gesicht, sie stünde mit Satan im Bunde. Dennoch konnte er sich nicht dazu entschließen, Eleonora dem Scheiterhaufen zu überantworten. In der Hoffnung, ihre Schönheit nicht mehr erblicken zu müssen, ordnete der Inquisitor schließlich an, das Gesicht der jüngst als Hexe entlarvten Frau mit Feuer und glühendem Eisen zu entstellen. Die Paradiesblume sollte welken. Doch ihr Antlitz hatte sich in den Geist des Inquisitors eingebrannt und quälte ihn fortwährend. In seiner ärgsten Not ließ er einen Mann zu sich bringen, der wenige Tage zuvor verhaftet worden war und dessen Hilfe er unter gewöhnlichen Umständen niemals in Anspruch genommen hätte. Ein Alchemist zweifelhaften Rufes mit angeblich besonderen Fähigkeiten und Ideen, die Petrus Zwicker als überaus ketzerisch ansah. Was der Inquisitor zu jener Zeit nicht wusste, Lucius Pranger war im Grunde seines Herzens tatsächlich ein Häretiker und mit den dunklen Riten des Todes vertraut, die ihm mit Sicherheit das Ende auf dem Scheiterhaufen eingebracht hätten. Der Häretiker besaß einen silbernen, geweihten Opferdolch, der in seinem reichlich mit Hämatiten1 verzierten Griff eine Sanduhr eingebaut hatte und dessen Knauf am Ende einen Totenschädel mit Augen aus Rubinen darstellte. Die Karfunkelsteine sollten Schutz gegen die Pest und den Teufel bieten. Schließlich kreuzigten sie Eleonora kopfüber in den Folterkammern der Inquisition. Während die Stunde zur Mitternacht schlug, begab sich Lucius Pranger im Auftrag des Inquisitors zu dem gemarterten Opfer und führte das Ritual durch, das den Geist und die Seele der vermeintlichen Hexe aus ihrem Körper bannen und Petrus Zwicker von den Gedanken befreien sollte, die seine Seele befleckten. Mit Hilfe des Dolches fügte Lucius seinem Opfer eine tiefe Wunde am Hals zu, einzig zu dem Zweck an ihr Blut zu gelangen. Fortlaufend die Worte hoc est enim corpus meum murmelnd, die der Geistliche, während er an der Tür zur Folterkammer lauschte, lediglich als Hocus Pocus verstand, fing der Häretiker das Blut auf, ließ es gerinnen, verarbeitete es zu feinem Pulver, füllte es in ein eigens hierfür geschaffenes Stundenglas und bannte zugleich ihren Geist und ihre Seele in die Glaskolben. Es handelte sich hierbei um eben jenes Stundenglas, das Petrus Zwicker nach dem Ritual an sich nahm und nach seinem Tod in den Kirchenbesitz wechselte und von dort aus unerfindlichen Gründen entwendet wurde. Den geist- und seelenlosen Körper Eleonoras ließ Petrus auf dem Scheiterhaufen gemeinsam mit dem Häretiker verbrennen. In dem Wissen seines eigenen, zu erwartenden Schicksals in den Fängen der Inquisition, hatte Lucius das Glas jedoch mit Flüchen versehen, die es zu dem machten, was es am Ende eigentlich war. Ein Hexenglas. Fortan erschien der Geist Eleonoras dem Inquisitor jede Nacht pünktlich zur Mitternacht und quälte ihn so lange das Blut durch die Kolben lief, für die Dauer einer Stunde mit Wehklagen, lüsternen Eingebungen, Versuchungen und Schreckensbildern aus der Hölle. Ihr Geist zwang ihn, das Glas jede Nacht zur selben Zeit umzudrehen. Er konnte sich dem Einfluss bis zu seinem Tod nicht entziehen und erhielt eine Vorstellung von dem, was seine schwarze Seele nach dem irdischen Leben erwartete. Ein Platz in der Hölle. Satan empfing den Inquisitor mit offenen Armen. Aber das Stundenglas wies noch andere Besonderheiten auf. Der Fluch des …«


Während sich der Ladenbesitzer in den Erzählungen über Eleonora und den Inquisitor verloren hatte, konnte George der Versuchung nicht widerstehen und hatte das Stundenglas aus dem Schaufenster unbemerkt an sich genommen. Bewundernd betrachtete er das Meisterwerk eines Stundenglases, das in seiner Wertschätzung durch die Geschichte des Antiquitätenhändlers noch gewonnen hatte. Natürlich schenkte George den Worten keinerlei Glauben. Er war Realist und kein bisschen abergläubisch. Gedankenverloren drehte er das Glas zwischen den Fingern und suchte nach Fehlern, mit denen er den Preis drücken konnte. Er war der festen Überzeugung, er könne dem alten Mann das Stundenglas abschwatzen.
»Um Himmels Willen, was tun Sie da?« schrie der Alte aufgebracht, »stellen Sie das sofort wieder zurück! Halt! Nicht umdreh …«
Es war zu spät. George hatte das Stundenglas umgedreht und das feine Pulver rann bereits unwiederbringlich durch die Kolben des Glases.


 

 
Georges Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass es Zeit war, sich auf den Weg zu machen. Feierabend für heute. Den ganzen Tag hatte er sich im Büro mit der Auswertung der Unternehmenskennzahlen und der Bildung von Pensionsrückstellungen beschäftigt. Viertel vor Sieben und er hatte noch kein Geschenk für Lisa besorgt. Immerhin hatte er vor, ihren vierten Jahrestag gebührend zu feiern. Finn, ein Freund und Kollege, kam im Büro vorbei, um mit ihm zu reden.
»Hi George, schön dich zu sehen. Alles in Ordnung bei dir?« fragte er.
»Ja, danke. Ich bin leider etwas in Eile und muss noch Besorgungen machen. Lass uns morgen reden. Hast du auf die Schnelle einen Tipp, wo ich ein passendes Geschenk für meinen und Lisas Jahrestag auftreiben kann?«
Finn starrte George entgeistert an. Tränen glänzten in seinen Augen und er rang offensichtlich um Fassung.
»Entschuldige George?«, sagte er leise, »ist wirklich alles in Ordnung bei dir? Ich wollte dir sagen, wie leid mir das mit Lisa tut.«
»Was zur Hölle meinst du?«, brauste George plötzlich auf, der nicht verstand, was Finn ihm mitteilen wollte.
»Nun ja, erst die Sache mit Vernon. Ich traute mich nicht, dich darauf anzusprechen. Eure Beziehung war in meinen Augen immer harmonisch und dann brannte sie einfach mit diesem gelackten Pfau durch. Ihr wart das perfekte Paar. Das war sicher schmerzlich. Und dann der Schock. Lisas plötzlicher Tod. Aus heiterem Himmel. Ich wollte zur Beerdigung kommen, ihr die letzte Ehre erweisen und dir mein Beileid ausdrücken. Es muss schrecklich für dich sein. Aber die verdammte Grippe und dann noch dieser Noro-Virus hatten mich an die Toilette gefesselt. Ich hoffe, du vergibst mir. Wenn ich irgendetwas für dich tun kann oder du meine Hilfe brauchst, sag es einfach, ich bin für dich da.«
»Du redest vielleicht einen Blödsinn, Finn«, erwiderte George kopfschüttelnd, »über so etwas macht man keine Späße. Ich suche ein Geschenk für Lisa und dann werde ich einen wunderschönen Abend mit ihr verbringen.«
»Ok, ok, ich verstehe dich gut. Du bist noch nicht drüber weg. Tut mir leid, ich hätte dich nicht darauf ansprechen sollen.«
»Was ist nun? Hast du einen Tipp für mich?«
»Natürlich …«, antwortete Finn traurig und schilderte George den Weg zu einem Antiquitätengeschäft.


 

 
Glück gehabt, dachte George als er um neunzehn Uhr dreißig vor dem Ladengeschäft stand und feststellte, dass ihm noch eine halbe Stunde Zeit blieb, um sich nach einem Präsent umzusehen. Das Stundenglas im Schaufenster zog seine ganze Aufmerksamkeit auf sich.
Das ist genau das Richtige für Lisa. Es wird ihr bestimmt gefallen, ging es ihm durch den Kopf.
»Guten Abend«, grüßte George die Verkäuferin freundlich, die mit dem Rücken zur Eingangstür stand und einen silbernen Dolch säuberte.
»Ach, du bist es, George«, sagte die Frau beiläufig und drehte sich zu George um, »ich dachte mir, dass du wieder kommst. Du bist wegen des Stundenglases hier, nicht wahr?«
George nickte. Die Frau war jung und trug eine Brille, hinter der ihre grünen Augen weit größer wirkten als sie tatsächlich waren. Das lange, rote Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie war groß und schlank und hatte eine Alabasterhaut, die ihr eine edle Erscheinung gab.
Sie war schön. George schluckte.
»Kennen wir uns?« George war plötzlich sehr seltsam zu Mute.
»Natürlich!« sagte die Händlerin und klang, als wäre sie eingeschnappt, »erinnerst du dich denn nicht mehr? Ich bin Eleonora. Du warst schon einmal hier und interessiertest dich für das Stundenglas im Schaufenster. Es gehört jetzt dir, wenn du es haben möchtest.«
»Selbstverständlich, ich will es haben«, stammelte George überrascht, »aber …«
Eigentlich wollte er sagen, dass er das Glas nicht gekauft hatte. Noch nicht jedenfalls. Es war ihm ein Rätsel, wie sie darauf kam, dass es ihm gehören könnte. Woher kannte sie ihn. Der vertraute Ton Eleonoras irritierte ihn. Er konnte den Satz nicht beenden, da drückte sie ihm bereits das Stundenglas in die Hand.
»Geh und mach dir einen schönen Abend. Vergiss nicht, die Sanduhr um Punkt Mitternacht umzudrehen.«
Ihr Lächeln zaghaft erwidernd, drückte er das Glas an sich und verließ den Laden. Beinahe wäre er vor Verwirrung über die Stufen hinter der Eingangstür gestolpert und gestürzt, wenn ihn Eleonora nicht im letzten Moment abgefangen hätte. Ihre Berührung am Arm ließ ihn erschaudern. George wusste nicht wie ihm geschah. Es war, als habe er ein Déjà Vu gehabt und doch wieder nicht. Etwas war ganz und gar verkehrt.
Was ist geschehen?, fragte er sich.


 

 
Zu Hause angekommen, fand er zu seiner Überraschung eine verlassene Wohnung vor. Lisa war nicht da. George stellte das Stundenglas auf den Esszimmertisch und suchte in jedem Zimmer. In der Küche stapelte sich Geschirr, die Betten waren nicht gemacht und die Wohnung musste dringend aufgeräumt und geputzt werden. George fühlte sich, als wandelte er in einem Albtraum. Wo war Lisa? Immerhin war heute ihr vierter Jahrestag, den sie gemeinsam bei einem schönen Abendessen feiern wollten. Auf der Kommode neben der Garderobe fand er Fragmente eines zerrissenen Briefes und einige Trauerkarten. Allmählich wurde ihm die Ge-schichte unheimlich, seine Knie wurden weich und er begann am ganzen Körper zu zittern. Mit fliegenden Fingern suchte der die einzelnen Teile des Briefes und setzte sie so gut es ging wieder zusammen.
Vor dem Stundenglas sitzend, begann er den Brief zu lesen. Ohne jeden Zweifel erkannte er in den Zeilen Lisas Handschrift wieder.


»Mein lieber George, ich schreibe Dir diese Zeilen, weil ich mich davor fürchte, Dir in die Augen zu sehen, während ich Dir gestehen muss, dass ich einen anderen Mann liebe. Ich kann mich nicht erinnern, wann und wie es genau geschehen ist. Die Erkenntnis traf mich völlig unerwartet, als ich unseren Abend zum vierten Jahrestag vorbereiten wollte. Vernon stand vor mir und ich wusste von einem Augenblick auf den anderen, dass er der Mann meines Lebens war. Es tut mir unendlich leid. Ich dachte, ich liebe Dich. Doch plötzlich hat sich alles …«


Den Rest des Briefes konnte George nicht entziffern. Die Zeilen trafen ihn wie ein Schlag. Starr saß er eine Weile vor dem Stundenglas und war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich zwang er sich aufzustehen, nahm eine der Trauerkarten vom Stapel und öffnete mit zitternden Händen den Umschlag.


»Lieber George, wir sind zutiefst erschüttert über die Nachricht von Lisas Tod. In tiefer Trauer und Anteilnahme finden wir keine Worte des Trostes und fühlen mit Dir. Deine Anne und Finn.«


George ließ die Karte fallen, als habe er sich die Finger daran verbrannt. Fieberhaft öffnete er die übrigen Karten und überflog deren Inhalt. Beileidsbekundungen, Fassungslosigkeit, Worte des Trostes und der Anteilnahme über Lisas Tod. Konnte es denn wirklich wahr sein? Hatte er den Verstand oder sein Gedächtnis verloren? Er versuchte sich zu erinnern, wollte seine Gedanken ordnen. Zwecklos.
Panische Angst überfiel ihn. Im Zimmer auf und ab laufend, versuchte er sich zu beruhigen. Die Angst wich purer Verzweiflung, die sich in einem ungewollten Lachkrampf Luft machte. George stand neben sich und hörte sich an, als sei er dem Wahnsinn verfallen. Er musste nachdenken und eine Lösung finden. Sein Blick fiel auf das Stundenglas. Beinahe hätte er die Worte Eleonoras vergessen, die sie ihm mit auf den Weg gegeben hatte Es war kurz vor Mitternacht. Mit einem Seufzer fiel er auf den Stuhl, beobachtete den Zeiger seiner Armbanduhr und drehte das Stundenglas Schlag zwölf Uhr um.


Roter Sand rieselte durch die Kolben. George wurde kalt als er zusah, wie sich das untere Glas füllte. Er glaubte, seinen Atem sehen zu können. Seine Nackenhaare sträubten sich, als er plötzlich das ungute Gefühl hatte, dass jemand dicht hinter ihm stand und ihn mit kalten Fingern berührte. George fuhr herum und warf dabei den Stuhl um. Er riss die Augen auf und wollte nicht glauben, was er sah. War der Albtraum endlich vorbei? Wollte ihn jemand auf den Arm nehmen? Lisa stand nackt vor ihm und sah ihn vorwurfsvoll an. Ihr Blick war voller Hass und Abscheu. Noch nie hatte er sie so gesehen.
»Du Mörder«, beschuldigte sie ihn, »Du hast mich ermordet. Hast du gedacht, du kämst damit durch, indem du einen tödlichen Unfall vortäuschtest? Ich habe dich geliebt, George. Ich wollte deine Frau werden und Kinder mit dir haben. Doch du hast alles verdorben. Du brachtest dieses verfluchte Hexenglas nach Hause und verrietest unsere Liebe damit. Besessen von der Hexe, deren Geist in dem Glas wohnte. Warum hast du auf sie gehört und mir den Dolch ins Herz gestoßen? Ist sie so viel schöner und begehrenswerter als ich es war? Warum nur, George? Warum?«
»Ich verstehe nicht«, brachte George mit Mühe hervor, »wer oder was bist du? Ein Geist? Das muss ein Albtraum sein.«
»Oh nein«, antwortete Lisa gehässig, »so einfach ist das nicht. Sie gab dir den Dolch des Todes, um mich zu töten. Du hast sie befreit, indem du mich statt ihrer in das Glas verbannt hast. Aber du wirst mich nicht los. Das hast du nun davon. Ich
werde dir keine Ruhe lassen und dir die Hölle zeigen. Willst du sehen, welches Schicksal deine Seele dort erwartet?«
»Nein!« schrie George und lief so schnell er konnte in Richtung Wohnungstür.
»Lauf nur weg, Feigling. Ich komme wieder. Jede Nacht werden wir zusammen sein.«

 

 
George rannte, als ginge es um sein Leben. Seine Beine trugen ihn wie von selbst zu dem Antiquitätengeschäft. Er pochte an die verschlossene Tür, hämmerte mit den Fäusten dagegen bis sie bluteten.
Schlaftrunken öffnete der alte Ladenbesitzer die Tür einen Spalt weit, ohne die Kette zu entfernen und George hereinzulassen.
»Was wollen Sie zu so später Stunde, junger Mann?«, fragte er verärgert.
»Das Stundenglas …«, keuchte George außer Atem, »… Eleonora. Sie müssen mir helfen. Ich glaube, ich werde verrückt.«
»Ah, ich verstehe«, sagte der alte Mann, »Sie trafen meine Enkelin, nehme ich an. Sie gab Ihnen die alte Sanduhr, weil sie jetzt Ihnen gehört. Habe ich Sie denn nicht gewarnt?«
»Bitte …«, flehte George, »nichts ist, wie es einmal war.«
»Das ist die Zeit die fließt, mein Freund. Die Welt ändert sich ständig. Unwiederbringlich verloren, was einst war und Sicherheit verhieß. Nur der Tod ist endgültig und eine feste Konstante im Fluss der Unendlichkeit. Wussten sie das nicht, als sie das Stundenglas drehten? Ein Symbol des Todes. Der Fluch hat Sie getroffen. Sie haben das Gesetz der Zeit durchbrochen und befinden sich nun in einem Strudel, der sie hinabzieht, geradewegs in die Hölle.«
»Was soll ich tun?«
»Zerstören Sie das Glas mit dem Dolch des Todes und durchbrechen Sie das Paradoxon, das Sie für sich selbst geschaffen haben. Sie haben Ihre Liebe damit getötet. Nun bringen Sie es zu Ende«, sagte der Alte.
Der Ladenbesitzer kramte lautstark in den Regalen des Ladens, kehrte mit einem silbernen Gegenstand in der Hand zur Tür zurück und überreichte George den Dolch. Die Hämatiten und Rubine schimmerten rötlich im Licht der Straßenlaternen.


 

 
George lief zurück zu seiner Wohnung. Den Dolch verbarg er währenddessen unter seinem Hemd. Vorsichtig spähte er durch die Wohnungstür und trat ein, als er nichts Verdächtiges entdecken konnte. Lisa oder was auch immer er zur mitternächtlichen Stunde gesehen hatte, war verschwunden.
Ohne zu zögern holte er den Dolch hervor und stach mit aller Kraft die ihm geblieben war auf das Stundenglas ein. Die Glaskolben zerbarsten unter der Gewalt des Dolches und das geronnene Blut verteilte sich auf Tisch und Boden.


George hatte sich für einen Blumenstrauß und einen goldenen Verlobungsring mit einem Rubin entschieden, nachdem ihm der alte Mann in dem Ladengeschäft die Sanduhr nicht verkaufen wollte. Rote Rosen waren Lisas Lieblingsblumen und es wurde Zeit, dass er ihr endlich einen Antrag machte.
Als er nach Hause kam, stand Lisa mit gepackten Koffern im Flur und sah George aus traurigen Augen an. Sie hatte geweint.
Ohne Worte drückte sie ihm einen Brief und die Wohnungsschlüssel in die Hand. Sie ging, ohne sich noch einmal umzusehen.
Auf seltsame Weise hatte George das Gefühl, als kenne er den Inhalt des Briefes bereits.


»… verändert. Wir hatten vier gute Jahre, das will ich nicht verleugnen. Doch heute hat sich ein Schatten über unsere Beziehung gelegt. Es fühlt sich an, als wäre etwas Unbegreifliches geschehen und in unser Leben zwischen uns getreten. Mein Vertrauen wurde zerstört. Vielleicht ist es der Fluch des vierten Jahres. Ich weiß es nicht, aber ich kann mir nicht mehr vorstellen, mit Dir alt zu werden. Leb wohl. Deine Lisa. P.S.: Wer ist Eleonora?«


Enttäuscht und vor den Kopf gestoßen zerriss George den Brief in kleine Teile, sank auf die Knie und weinte. Was hatte er getan?
Zwei Stunden waren vergangen, ehe sich George von dem Schock so weit erholt hatte, dass er sich wie in Trance erheben und einige Schritte gehen konnte.


Als er in das Esszimmer trat, sah er auf dem Tisch ein altes Stundenglas stehen. Vor dem Glas lag ein Zettel. Auf diesem stand geschrieben:


»Für George von Eleonora. Ich bin endlich frei. Danke.«


Anmerkungen:
1 Blutstein. Ein Edelstein, dem eine heilende Wirkung nachgesagt wird.


06. Apr. 2009
bereits veröffentlicht im Buch "Von Dolch und Stundenglas" 


Veröffentlichung auf www.leser-welt.de mit freundlicher Genehmigung von LITERRA.


Hier geht es zur Rezension des Hörbuchs, dass diese Kurzgeschichte beinhaltet.

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