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Er wußte nicht mehr, wann ihm zum ersten Mal bewußt wurde, daß sie ihn aussaugte. Sich seiner Energie bediente. Nein, nicht im herkömmlichen Sinne. Wie Vampire es sonst zu tun pflegten. Es war kein Aderlaß. Kein Aussaugen. Es war subtiler. Ohne Wunden und Narben zu hinterlassen. Nicht sicht-, aber fühlbar. Sie bediente sich seiner Liebe. Schlimmer noch: seiner Seele.
Er wehrte sich dagegen.
Doch er wußte, es war hoffnungslos.
Sie saß ihm im Blut. Im Körper. Und seinem Denken und Handeln. War allgegenwärtig. Rund um die Uhr. Den Tag. Die Woche. Das Jahr. Sein Leben. Er stand mit ihr auf und ging mir ihr zu Bett. Nicht körperlich. Imaginär. Auch wenn sie weit entfernt war, in ihrem warmen Land, war sie um ihn. In ihm. Lenkte sie ihn. Wie eine Marionettenspielerin, die an den Fäden zog. Den Fäden seines Lebens. Seines Ichs. Alles, was ihn ausmachte. Und er war ihr hilflos ausgeliefert. Weil er die Gefahr zwar erkannte, sich ihr aber nicht entziehen konnte. Sich gar bewußt hinein begab. Weil es ihn immer wieder hin trieb. Zu ihr. In ihre Nähe. In sie hinein. Tief in sie hinein. Weil er sie brauchte. Mehr als jemals ein Wesen zuvor. Ohne sie fühlte er Schmerz.
Phantomschmerz.


Dabei hatte er sie von sich gewiesen. Von sich gestoßen. Ihr den Pflock in das Herz geschlagen. So lange, bis es in Stücke brach. Er wollte Ruhe vor ihr. Endlich Ruhe. Vor ihrer kraftzehrenden, fordernden Liebe. Gleichzeitig sehnte er sich auch nach ihr. Ihrem Lachen. Ihrer Heiterkeit. Zärtlichkeit. Ihrer stolzen, zurückhaltenden Erotik, die sie nur wenigen schenkte. Sie war anders als die Frauen, denen er bisher begegnet war. Ordnete sich nicht unter. Forderte viel, gab aber auch mindestens ebenso viel zurück. Ihre Zärtlichkeit war voller Süße. Süße, die süchtig machte. Ihn süchtig machte. Und je verzweifelter er sich dagegen wehrte, desto mehr sehnte er sich nach ihr. Desto heftiger litt er Entzug. Desto gieriger wurde er nach ihr.
Nie fühlte er sich widersprüchlicher.
Nie ausgelieferter.
Hilfloser.
Verängstigter.
Wütender.
Auf sie. Und auf sich. Besonders auf sich. Daß er es soweit hatte kommen lassen. Daß er sich ihr auslieferte. Und sich ihr nicht widersetzte. Ihr nicht die Nahrung, die sie am Leben erhielt, entzog: seine Seele.
Doch nicht nur er stand in ihrem Bann. Wenn sie den Raum betrat, zog sie die Blicke der Männer auf sich. Magnetisch - ohne es sonderlich zur Kenntnis zu nehmen. Oder es darauf anzulegen. So wie andere Frauen, die stundenlang vor dem Spiegel standen. Sie verzichtete auf jegliches Make-up. War eine zeitlose Naturschönheit. Trug ihre helle, perlmuttfarbene Haut in dunkle Kleidung gehüllt. Das Bestechende waren ihre Augen. Samtig dunkel unter geschwungenen Brauen, vermochten sie es, in Erregung versetzt, plötzlich grünlich zu schimmern. Ihre Lippen waren sanft geschwungen. Rosig durchblutet. Ließen in ihrem leicht verruchten Lächeln den Blick auf strahlend weiße Zähne frei.
Sie war nicht darauf aus zu wirken. Sie war einfach da. Mit einer Präsenz, die beinahe schmerzte. Emotional und sexuell. Er war zwar immer triebhaft gewesen. Aber nicht so. Nicht in dieser Intensität. Allein ihr Gang war eine Versuchung. Wiegend, weich im Schritt. Aufreizend, mit einer Prise Unschuld. Wie ein Pantherweibchen, das sich seinem Opfer näherte. Aber das war nicht alles. Er wußte noch, was in ihm vorging, als er zum erstenmal ihre Stimme hörte. Sanft, erotisch und dennoch bestimmt. Tagelang lief er herum. Orientierungslos und unmotiviert. Wie von einem Virus befallen. Einem lähmenden Virus, das ihn gleichzeitig, wie in Fieberschüben aufpeitschte. Er konnte an nichts anderes denken, als an sie. An ihre Stimme und an die Träume und Wünsche, die sie in ihm wachrief. Er mußte sie wiederhören. Sie wiedersehen. Er wollte sie besitzen! Sie unterwerfen. Zu seinem Geschöpf machen. Kein anderer durfte sie haben. Nur er, er, er!
Er war krank.
Er kannte sie nicht einmal. Dennoch wußte er: er wollte sie. Ganz und gar. Wollte sich nicht mit ihrem Körper begnügen. Er wollte viel mehr. Ihre Seele.
Warum, fragte er sich erschrocken. Wollte er sich noch einmal beweisen? Und warum dann mit ihr? Sie war nicht sein Frauentyp. Eher der, den er bisher immer sorgsam gemieden hatte. Sie war die gefährliche Mischung, die eine Bedrohung für ihn darstellte. Für die besondere Verletzbarkeit seiner Seele. Sie war der Frauentyp, mit dem er nicht umzugehen gewohnt war. Weich und feminin. Aber auch hart und fordernd zugleich. Anschmiegsam wie eine Katze. Aber man durfte ihr niemals den Rücken zukehren. Sie war wie ein stiller See, mit brodelnder Glut auf dem Grund. Die Gefahr, die herabzog. Ins dunkle Tal. Ins finstere Land. Sie war uneinschätzbar in ihrem Tun. Ihrem Sein. Ein weiblicher Jekyll und Hyde. Sie war jener Frauentyp, der Mißtrauen in ihm weckte. Ihm, der ohnehin als Skeptiker geboren war. Im besonderen Maße. Dadurch war er gezeichnet. War extrem leicht kränkbar und nachtragend. Und sie war genau der Typ Frau, der diese Dünnhäutigkeit seiner Seele heraufbeschwor. Sie war alles, was ihn sonst abschreckte. Ihn jetzt aber unaufhaltsam anzog. Denn sie vereinte alles, was ihn an einer Frau reizte. Sie war Freundin, Geliebte, Muse, Trostspenderin, Abenteurerin, Verführerin und vieles mehr.
Er war verunsichert.
Alarmiert.
Sensibilisiert.
War keines klaren Gedankens fähig.
Dabei war er ein Mann besten Alters. Hatte die Fünfzig überschritten und blickte auf mehrere gescheiterte Beziehungen zurück. Er hatte sich geschworen, nie wieder zu lieben. Sich nie mehr zu binden. Zu öffnen. Eine Frau an sein Inneres, seine Seele heranzulassen. Seine Haare waren dadurch frühzeitig ergraut. Mit ihnen seine Seele. Er war zynisch geworden. Selbstgerecht. Empfindlich. Um sich zu schützen, versteckte er sich hinter seinen selbst auferlegten Regeln. Die er umklammerte wie einen Schutzschild. Die es anderen unmöglich machte, sich ihm auf Dauer zu nähern. Gar längere Zeit mit ihm auszukommen. Er nahm es in Kauf. War lieber allein, aber dadurch auch einsam. Hinter seinen dicken Verliesmauern. Seine Stimme erklang stets befehlsgewohnt. Ebenso war sein Geist. Er war der festen Überzeugung, daß nur seine Sichtweisen richtig waren. Für sich. Und andere. Bevor er verletzt wurde, verletzte er. Ungnädig und rücksichtslos. Er war - wie sie - ein Zwitterwesen. Auch seine Liebe glich einem tödlichen Akt. Er konnte zärtlich sein, aber auch mit arroganter Härte verwunden und töten. Seine Seele sprach zwei Sprachen. Die des Liebenden und die des Richters. Und er fällte seine Schuldsprüche schnell und unbarmherzig.
Doch sie konnte er damit nicht schrecken.
Sie trat ihm entgegen.
Furchtlos. Mit offenem Herzen und Augen. Sie nahm ihn wahr. Wie ihn noch keine Frau wahrgenommen hatte. Und erkannte seine Ängste. Die verworrenen Wege seiner Seele. Mit all ihren Schlupfwinkeln, in die er sich immer wieder zurückzog. Wie ein verletztes Tier, das seine Wunden leckte. Er verstand es nicht, daß die ständige Nähe eines anderen auch heilsam sein konnte. Keine Gefahr darstellte. Er hatte sein Herz und seine Seele bisher nur auf begrenzte Zeit hingegeben. Wie eine Leihgabe, hatte er sie stets zurückgenommen, wenn Gefahr drohte. War somit nie das Risiko des Sich-Auslieferns eingegangen.
Bis er sie traf.
Das änderte alles.
Sie leuchtete nur für ihn. Aus sich heraus. In ihn hinein. Mit einer Energie, die ihn wie ein Magnet aus seiner Dunkelheit zog. Er öffnete seine Seele. Nur um in ihrer Nähe zu sein. Selbst wenn sie weit entfernt in ihrem Land war, schrieb er ihr Briefe. Tausende. Von seinen Gefühlen. In nie gewählten Worten. Daß er nie so empfunden habe. So tief. So ehrlich. So einzigartig. Daß er nicht wisse, was mit ihm los sei. Daß er allenfalls als Pubertierender so gefühlt habe. Mit Schmetterlingen im Bauch, die schwarz wurden, wenn ihn die Angst erfaßte, sie zu verlieren. Er verriet ihr, daß er zu nichts anderem mehr fähig war. Das er nur so dasaß und an sie dachte. Sich ständig fragte, was sie wohl gerade mache. In dem Augenblick.
Wenn er ihr im Dunkel der Nacht seine Stimme schickte, spürte er Gier in sich. Gier und Lust. Sie war nicht eindimensional. Nicht zweidimensional. Sie war dreidimensional. Floß über Grenzen. Verband sie. Vereinte sie. Bevor sich ihre Körper vereinigten. Er wollte sich an ihr satt hören. Satt sehen. Satt trinken. Satt lieben.
Doch zum ersten Mal flackerte die Urangst in ihm auf.
Sich zu verlieren.
An sie. In ihr. In dem Gefühl für sie. Er hatte Angst, seine innere Mitte zu verlieren. Denn eines wußte er bereits: wenn er sich nun wieder in den geheimsten Schlupfwinkel seiner Seele zurückziehen würde - wie er es Jahrzehnte seit seiner Kindheit tat - würde er sich nicht mehr sicher fühlen. Nicht mehr geborgen. Selbst dort würde er nicht mehr allein sein. Sich nicht mehr gehören. Auch dorthin würde sie ihm folgen.
Immer.
Bis in alle Ewigkeit.
Noch etwas bereitete ihm Furcht. Sie war nicht kontrollierbar. Würde ihn selbst über die Grenzen hinaus im Auge behalten. Ihn nicht loslassen. Man konnte sie nicht abschütteln. Kein Pflock, keine Silberkugel, kein Weihwasser konnte sie stoppen. Sie war die Königin der Unsterblichkeit. Einmal von ihr infiziert, lebte man mit ihrer Schattengestalt. Und gab ihr dadurch Leben.
Unabänderbar.
Du wirst mich nie verlieren, schrieb er ihr einmal. Mit seinem (Herz-)Blut. Unterzeichnete damit seine ganz persönliche Frohn. Denn er würde auch sie nie verlieren. Auch wenn er es wollte. Selbst wenn ihn ihre vereinnahmende Last drückte. Besonders ihn, der emotional nicht belastbar war.
All das war ihm bewußt.
Und dennoch lieferte er sich wissentlich aus. In der Hoffnung, sie würde behutsam mit seiner Seele umgehen. Sie mit ihrer Energie füllen und ihn mit sich ziehen. Ins Licht. Ins Leben. Heraus aus dem engen Kreis. Dem Kreis seiner Ängste und Selbstzweifel. Seiner streng gesteckten Regeln, die ihn selbst mehr einengten, als er es sich eingestehen wollte.
Sie kam. Nahm in an die Hand. So selbstverständlich, als habe sie ihr Leben lang nur auf ihn gewartet. Wie zwei Bluts-, nein Seelenzwillinge, die sich endlich nach langer Lebensreise fanden. Ihren lang ersehnten Hafen anliefen.
Als sie sich das erste Mal liebten, hörten sie beide die Musik, nach der ihre Seelen tanzten. Sie hofften, sie möge nie verklingen. Er hörte noch immer ihre geflüsterten Worte. 'Du hörst dich wunderschön an.' Mit einer Stimme, die vor Zärtlichkeit bebte und sahnig an ihm abtropfte. Er wollte das immer hören. Dieses Beben. Dieses Timbre. Dieses leise Flüstern. Einem wispernden Windhauch gleich, der über seine fiebrige Haut strich. Und diese Worte. Die nur ihm galten. Ihm gelten durften. Wie ihre Hände, die seinen Körper liebkosten, als wäre er eine Kostbarkeit.
Er wollte sie haben.
Ganz und gar.
Ertrug nicht den Gedanken, andere Männer um sie zu wissen. Die Vorstellung, daß sie auch andere lieben könne. Streicheln, küssen oder ihnen Seelennähe schenken könne, machte ihn rasend. Es stachelte seine Wut an. Auf sie. Weil sie der Auslöser seiner Urängste war. Auf sich. Weil er es zuließ. Es geschehen ließ. Sogar mehr wollte. Von ihr. In ihr. Mehr. Immer mehr. Doch er konnte ihrem Tempo nicht Schritt halten. Ihrer Gier nach ihm, auf ihn, die er selbst entfacht hatte. Sie laugte ihn aus. Ermüdete ihn. Er kam sich plötzlich alt - sehr alt - vor. Und war müde. Sehnte sich nach endlosem Schlaf. Dem endlosen Schlaf, der ihm schon zu lange verwehrt geblieben war. Besonders seit sie in sein Leben getreten war.
Er schwankte.
Wollte sich ihrer entledigen.
Dieser süßen Sucht, die ihn Monate berauscht hatte. Ihn erotisiert und verjüngt hatte. Diese Energiequelle, die er angezapft und an der er sich schadlos gehalten hatte.
Sie war nun zu viel.
War wie ein Multiplikator. Im Glück wie im Leid.
Er wollte den sauberen, scharfen Schnitt. Ohne Narkose. Nahm das heftige Nachbluten in Kauf. Nahm es bei ihr in Kauf. Es war ihre Seele, die Schaden nehmen würde. Nehmen sollte. Dieses Mal bevor... bevor es seine träfe.
Er fand keine Worte mehr. Wollte sich abwenden. Sie schutzlos zurücklassen. So dachte er. Er meinte sie zu kennen. War erleichtert sich dieser Sucht entledigt zu haben. Es würde vorbei sein. Endlich vorbei. Die Ruhe seiner einsamen Nächte hätte ihn wieder.
Doch das war ein Trugschluß, den er nicht sah. Weil er den wahren Ursprung ihrer Seele nicht kannte. Nie gekannt hatte.


Sie wußte nicht mehr, wann ihr zum ersten Mal bewußt wurde, daß er sie aussaugte. Sich ihrer Energie bediente. Nein, nicht im herkömmlichen Sinne. Wie Vampire es sonst zu tun pflegten. Es war kein Aderlaß. Kein Aussaugen. Es war subtiler. Ohne Wunden und Narben zu hinterlassen. Nicht sicht-, aber fühlbar. Er bediente sich ihrer Liebe. Schlimmer noch: ihrer Seele.
Sie wehrte sich dagegen.
Doch sie wußte, es war hoffnungslos.
Er saß ihr im Blut. Im Körper. Und ihrem Denken und Handeln. War allgegenwärtig. Rund um die Uhr. Den Tag. Die Woche. Das Jahr. Ihr Leben. Sie stand mit ihm auf und ging mit ihm zu Bett. Nicht körperlich. Imaginär. Auch wenn er weit entfernt war, in seinem kalten Land, war er um sie. In ihr. Lenkte er sie. Wie ein Marionettenspieler, der an den Fäden zog. Den Fäden ihres Lebens. Ihres Ichs. Alles, was sie ausmachte. Und sie war ihm hilflos ausgeliefert. Weil sie die Gefahr zwar erkannte, sich ihr aber nicht entziehen konnte. Sich gar bewußt hinein begab. Weil es sie immer wieder hin trieb. Zu ihm. In seine Nähe. In ihn hinein. Tief in ihn hinein. Weil sie ihn brauchte. Mehr als jemals ein Wesen zuvor. Ohne ihn fühlte sie Schmerz.
Phantomschmerz.


Er war nicht der Typ Mann, der ihren Blick auf sich zog. Sie fühlte sich eher von jüngeren Männer angezogen. Männer, deren frisches Blut wild in den Adern pulsierte. Die nicht wie mumifizierte Greise liebten. Sondern ungezügelt und nicht endend. Exzessiv. Bis an die Grenzen. Das Gefühl des 'Ich lebe' auslösend. Er war das genaue Gegenteil. Sie wäre an ihm vorbeigelaufen. In einem anderen Leben. Aber in diesem waren sie füreinander bestimmt. Auch wenn alles gegen sie sprach. Allen voran er selbst. Er war der Typ, der sie immer geängstigt hatte. War der Inbegriff ihrer weiblichen Ängste. Dominant. Männlich. Bestimmend. Und dennoch sensitiv. Manchmal. Wenn er es wollte und ihm einen Nutzen brachte. Das war das Gefährliche an ihm. Er war uneinschätzbar. Sie sah es. Vom ersten Moment an. Doch auch sein Charisma. Die Ruhe, die er ausstrahlte. Jene trügerische Ruhe, die er bei Tage betrachtet nicht in sich trug. Das sah sie an den Malen seiner Finger, die er ständig selbst traktierte. Hände verrieten alles. Sie waren die Visitenkarten der Menschen. So wie Augen - die Fenster der Seele. Seine waren schwarz. Wie Kohlenstücke. Mal schimmerten sie warm wie flüssiges Pech. Mal hart und kalt wie Granit.
Sie spürte die Furcht tief in sich, verletzt zu werden. Wie sie nie zuvor verletzt worden war. Sie ahnte, daß nur er dazu in der Lage war. Ihre Seele sprach warnend auf sie ein. Sich ihm nicht hinzugeben. Nicht unfrei zu werden. Doch als sie seine Stimme zum ersten Mal hörte, schlug sie die Warnung in den Wind. Diese Stimme schoß wie ein Stromschlag durch ihre Adern. Brachte ihr Blut zum Kochen. Sie war süchtig danach, noch bevor der erste Satz verklang. Dieser dunkle rauh-erotische Ton verhallte. Fortan waren die Tage für sie verloren. Nur nachts schickte er ihr diese Stimme. Nur dann lebte auch sie. Durch ihn. Durch sie. Denn sie erklang nur für sie. Im Dunkel der Nacht. Abgeschieden und nur für sie vernehmbar. Sie war erotisiert. Konnte ihre Lust auf ihn kaum niederkämpfen. Aber auch die Gier auf das Leben, die er erstmals wieder in ihr entfachte. Plötzlich hatte der Tod seinen Reiz für sie verloren. Sie wollte leben, leben, leben. Durch ihn. Mit ihm.
Sie stammelte Dinge, die ihre Lippen niemals freigelassen hatten. Die Worte flossen aus ihrem Herzen. Aus ihrer Seele. Er forderte viel von ihr. Sich zu ändern. Zu häuten. Um ihm zu gefallen. Sie tat es. So schnell, daß es schmerzte. Dort wo sich ihr altes Leben nicht lösen wollte. Sie wollte so sein, wie er sie sich wünschte. Und war glücklich, daß er sie brauchte. Wenn er zärtlich zu ihr war, gehörte ihr die Welt. Gehörte ihnen die Welt. Wurde sie grenzenlos. Wenn er ihr sagte, daß er sie liebte, erklang Musik, die ihre Seelen zusammen summten. Wie der Wind an den Klippen des Meeres, von denen sie sich stürzen würde, wenn er sie jemals verließe. Doch er hatte ihr geschworen, daß das nie geschehen würde. Ihr damit seine Seele verpfändet. Auch wenn es ihm nicht bewußt war.
Doch auch sie gehörte längst ihm.
Sie war sanfter, demütiger, als bei jedem anderen Mann. Ihr Herz zerbarst fast vor Zärtlichkeit. Nur für ihn. Selbst wenn sie in Ungnade bei ihm fiel, liebte sie ihn. Mit einer Flamme, die nie erlöschen würde. Sie bettelte um seine Liebe, die er ihr immer zögerlicher, immer widerwilliger schenkte. Ohne ihn fühlte sie sich durstig. War unruhig. Schlaflos. Seelenlos. Ohne seine Nähe. Ohne das kehlige Stöhnen an ihrem Ohr. Seine Lippen an ihrem Hals. Seine Zähne in dem schwellenden Fleisch ihrer Brüste.
Er war mehr.
So viel mehr als alle anderen Männer zuvor.
Und doch soviel weniger.


Sie wußten nicht mehr, wann ihnen zum ersten Mal bewußt wurde, daß sie sich aussaugten. Sich ihrer Energie bedienten. Nein, nicht im herkömmlichen Sinne. Wie Vampire es sonst zu tun pflegten. Es war kein Aderlaß. Kein Aussaugen. Es war subtiler. Ohne Wunden und Narben zu hinterlassen. Nicht sicht-, aber fühlbar. Sie bedienten sich ihrer Liebe. Schlimmer noch: ihrer Seelen.
Sie wehrten sich dagegen.
Doch sie wußten, es war hoffnungslos.
Sie saßen einander im Blut. Im Körper. Und ihrem Denken und Handeln. Waren allgegenwärtig. Rund um die Uhr. Den Tag. Die Woche. Das Jahr. Ihre Leben. Sie standen miteinander auf und gingen mit einander zu Bett. Nicht körperlich. Imaginär. Auch wenn sie weit entfernt waren, jeder in seinem Land, waren sie zusammen. In dem anderen. Lenkten sich. Wie zwei Marionettenspieler, die gegenseitig an den Fäden zogen. Den Fäden ihres Lebens. Ihres Ichs. Alles, was sie ausmachte. Und sie waren sich hilflos ausgeliefert. Weil sie die Gefahr zwar erkannten, sich ihr aber nicht entziehen konnten. Sich gar bewußt hinein begaben. Weil es sie immer wieder hintrieb. Zueinander. In die Nähe des anderen. In den anderen hinein. Tief in den anderen hinein. Weil sie sich brauchten. Mehr als jemals zwei Wesen zuvor. Ohne einander fühlten sie Schmerz.
Phantomschmerz.


Es war das Pfand, das Seelenpfand, das sie vom ihm forderte. Das er nicht bereit war, ihr zu erbringen. Weil er kein Kämpfer war. Nicht so wie er sich immer dargestellt hatte. Er war nicht der dunkle Fürst mit dem Säbel. Das omnipotente Wesen, das über sie - über alle - herrschte. Er ging immer den Weg des geringsten Widerstandes. War nicht einmal bereit, für sie zu kämpfen. Um sie zu kämpfen. Gar ihr, und somit ihnen, eine Chance zu geben. Den Versuch zu wagen, eine Brücke zu bauen. Eine Brücke, die sie gemeinsam beschreiten konnten. Denn all das bedeutete für ihn Mühe, die sie ihm nicht wert war. Nichtsahnend, daß damit sein Schicksal besiegelt war. Denn sie verachtete solche Männer. Deren Worte Gesetz, aber deren Verhalten tatenlos war. Er liebte nur mit Worten. Doch seine Seele betrog. Sie zog sich zurück, wie es ihr beliebte. So auch bei ihr. Es traf sie unvorbereitet. Ohne Vorahnung. Er entzog ihr die Lebensnahrung. Voller Kalkül. Lenkte geschickt die Schuld auf sie. Sie war die Seelenvampirin. Sie sog ihn aus. Sie stahl ihm die Energie. Raubte ihm die Kraft. Bediente sich nur. Gab nichts. All das, wofür er sich zuvor bedankt, was er gebraucht hatte, war ausgelöscht. Hatte sie nie erbracht. Hatte nie existiert. Sie war das unselige Wesen, dessen er sich entledigen wollte. Dem er den Pfahl nicht mehr in den Schoß, sondern ins Herz stoßen wollte.
Es gab für sie nichts Erbärmlicheres.
'Du bist ein Feigling', sagte sie verächtlich. 'Du hast Angst, deine Gefühle zu leben. Sich für sie einzusetzen. Um sie zu kämpfen. Mein Schmerz kümmert dich nicht. Du hast nur dein eigenes Seelenheil im Auge. Aber du wirst es bereuen! Es büßen. Wirst durch das einzige Wesen, das du liebst, erfahren was Schmerz heißt. Dein Sohn wird es dich lehren. Denn auch er wird sich eines Tages von dir abwenden, weil du versuchst, auch seine Seele zu lenken. Ihr Regeln aufzuerlegen. Sie zu knechten. Zu versklaven. So wie du es bei mir und anderen versucht hast. Er wird dich lehren, was Schmerz ist, wenn man den Mensch verliert, den man liebt. Wirklich liebt. Und du wirst hilflos daneben stehen. Innerlich ausbluten. So wie ich. Unsere Kinder begleichen immer unsere Schuld.'
Er wußte, daß sie die Wahrheit sprach. Einen Fluch über ihn legte. Er vertrieb sie aus seinem Leben. Endgültig und unwiderruflich. Ohne einen letzten Blick. Eine letzte Geste. Ein Gespräch. Doch auch wenn er sich dagegen wehrte, wußte er, daß er sich damit der einzigen Chance beraubte, seine Seele zu bereichern. Ihr wieder die Nähe raubte, die sie für kurze Zeit erwärmt hatte. Sich selbst um seinen Zwilling, der nur für ihn bestimmt war. Er und sie würden fortan nur noch als Schattenwesen existieren.
Sie floß zurück in ihr Land. In das Land des Lichts. Ließ ihn zurück in seiner Tristesse. Seiner verstaubten Scheinwelt. So wie sie würde auch er zu Asche zerfallen. Doch schneller und einsamer. Immer hungrig und durstig nach ihrer Nähe. Er würde nie wieder satt werden. Bis ans Ende seiner Tage. Er hatte sein Seelenpfand längst erbracht.


Anmerkungen:
04. Aug. 2006
bereits veröffentlicht im Buch "Der ewig dunkle Traum" 


Veröffentlichung auf www.leser-welt.de mit freundlicher Genehmigung von LITERRA.

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