Smaller Default Larger

"Glaubst du eigentlich an Übersinnliches?" Sina blickte ihre Freundin Anita erwartungsvoll an.
Die warf ihr langes dunkles Haar über die Schulter und fragte entgeistert: "Wie bitte?"
Sina wusste, dass das eine Verzögerungstaktik war. Das machte Anita immer, wenn sie nicht wusste, was sie antworten sollte. "Ich habe gefragt, ob du an Übersinnliches glaubst. An Hexen, Geister, den Teufel und so einen Kram."
" Ach sooo..." Anita schien das Thema nicht sonderlich zu interessieren.
Sina dafür umso mehr. Zumindest, seit sie das Buch über die Schattenwelt auf dem Trödelmarkt erstanden hatte. Es war förmlich in ihre Hand gefallen. Als habe es eigenmächtig beschlossen, ihr zu gehören. Was natürlich absoluter Blödsinn war. Oder etwa nicht? Sina war nicht nur in diesem Punkt unsicher. Auch ob die darin verfassten Thesen nicht vielleicht doch alle der Wahrheit entsprachen. So abgehoben sie auch klangen. Aber was sie erlebt hatte, seit sie das Buch besaß, stellte ihr Weltbild in Frage. Sina war nie ein Mensch gewesen, der sich Gedanken über Glauben oder Aberglauben, Gut oder Böse, gemacht hatte. Ihre Welt war immer gefällig und rund gewesen. Sie lebte in einer Fun-Gesellschaft und genoss jeden Tag.
Ohne Wenn und Aber.
Ohne diese Welt zu hinterfragen.
" Bist du jetzt auch noch zu allem Überfluss verstummt?" brachte sich Anita wieder in Erinnerung.
Sina zögerte einen Augenblick. Sollte sie die Freundin einweihen? Sie fragte sich im nächsten Atemzug, wenn nicht Anita, wen dann?
Ein unsanfter Stoß in ihre Seite beendete diesen Gedanken. "Was ist los mit dir?" wollte Anita wissen und musterte Sina misstrauisch. Ihr Blick blieb an den dunklen Augenringen, die so untypisch für ihre Freundin waren, hängen.
" Es hat mit dem Buch zu tun, das ich auf dem Trödelmarkt gefunden habe."
" Ach das!" Anita rollte genervt mit den Augen. "Was ist denn mit dem verstaubten Schinken?"
" Sprich nicht so respektlos davon!", entfuhr es Sina.
Anita riss ruckartig die Augen auf. Sina war zwar temperamentvoll, aber selbst für sie war die Reaktion ungewöhnlich heftig.
Sina hingegen bereute es bereits, dass sie das Thema überhaupt angeschnitten hatte. Aber jetzt war es zu spät. Anita würde nicht lockerlassen, bis sie alles erfahren hatte. Sina seufzte. "Also, gut", sagte sie und begann zu erzählen...


Nachdem Anita gegangen war, zog Sina die Vorhänge vor die Fenster. Verwehrte damit neugierigen Blicken Einlass. Sie dachte wieder an Anita und ihre vorhersehbare Reaktion. Die Freundin hatte laut aufgelacht, als ihr Sina von den Möglichkeiten erzählte, die das Buch bot: in die Schattenwelt zu wechseln. Sich für geraume Zeit darin zu bewegen. Und die unvorstellbaren Möglichkeiten, die sie bot, auszukosten. Anita hatte das spöttisch abgetan. Als irrationalen Satanskult-Quatsch. Hatte die Freundin dennoch eindringlich gebeten, sich nicht darin zu verrennen. "Ich glaube zwar nicht an solchen Hokuspokus", hielt sie ihr entgegen. "Aber ich gebe dir trotzdem den gutgemeinten Rat: Lass die Finger davon und wirf das Buch dorthin, wo es hingehört, in die Tonne!"
" Ich gebe dir Hokuspokus", murmelte Sina. Sie lächelte bei dem Gedanken an Anitas Rat. Denn dafür war es längst zu spät. Sina kannte das Buch fast auswendig. Es wegzuwerfen hätte nichts geändert. Bisher hatte die Scheu überwogen, das Ritual zu begehen, mit dem es möglich war, in die Schattenwelt zu gelangen. Doch der Drang, Grenzen zu überschreiten, wurde immer größer. Wuchs in ihr. Verführerisch und unheilvoll zugleich. An diesem Abend, in dieser Nacht, konnte sie einfach nicht widerstehen. Vielleicht hatte gerade Anitas Verhalten den letzen Rest Bedenken in Sina weggefegt. Fieberhaft, mit zitternden Händen, entzündete sie sechs Kerzen, stellte sie auf den Boden und setzte sich davor, konzentrierte sich auf die Formel, die es aufzusagen galt. So hatte sie es zumindest in dem Buch nachgelesen. Leise murmelte sie sie vor sich hin.
Wartete.
Nichts geschah.
Sina wiederholte die wenigen Sätze. Immer und immer wieder. Bis die Kerzen niedergebrannt waren. Nichts geschah. Kein Windhauch regte sich. Keine Nebelgestalt erschien ihr. Enttäuscht hob sie die Kerzenreste vom Boden auf, warf sie in den Abfalleimer und ging zu Bett.


Wochenlang wiederholte sie das Ritual. Schlug immer wieder in dem Buch nach, ob sie etwas falsch machte, weil weiterhin nichts geschah. Warf das Buch letztendlich enttäuscht weg. Versuchte es, aus ihrem Kopf zu verbannen. Doch das gelang ebenso wenig wie das Ritual zu vergessen. Dafür erwuchs das untrügerische Gefühl in ihr, nicht mehr alleine zu sein. Weder in ihrer Wohnung, noch in sich selbst. Eine unbekannte Größe hatte Besitz von ihr ergriffen. Erst imaginär, dann deutlicher wahrnehmbar. Sina ignorierte dieses Gefühl. Schrieb es ihren immer gespannteren Nerven zu. Bis eine Stimme hinter ihrer Stirn ertönte, ihr Komm zu mir, meine Tochter, zuwisperte. Sina gab sich keine Mühe mehr, auch diese zu ignorieren. Das wäre ihr ohnehin nicht gelungen. Denn dieses Wispern und Flüstern war da. Immer. Wohin sie auch ging. Was immer sie auch tat.
Erst hörte sie nicht zu. Dann aber schenkte sie der Stimme Aufmerksamkeit. Und schon bald lauschte sie ständig in sich hinein. Schwieg die Stimme einmal, fühlte sich Sina verloren. Sie kapselte sich völlig von der Außenwelt ab, hielt Zwiegespräche mit sich selbst. Mit dem Erfolg, dass sie bald schon als Sonderling galt. Was für bildende Künstler nicht erstaunlich war. Ihnen traute man ohnehin alles zu. Sina war es schon immer gleichgültig gewesen, was andere von ihr dachten. Ihr extravagantes Verhalten hatte ihren Marktwert als Künstlerin nur gesteigert. Ihre farbenfrohen Skulpturen waren sehr gefragt. Doch seit die Stimme in ihr war, schuf sie nur düstere, skurrile Werke. Sie wusste nicht, woher die Formen, die Figuren in ihrem Geiste kamen. Aber sie schuf sie nach deren Abbild. Mischwesen und schließlich ein imposantes männliches Wesen, das düster und diabolisch gleichermaßen beeindruckte und erschreckte. IHN, anders nannte sie ihn nicht, stellte sie an einer geschützten Stelle ihres Ateliers auf. Dorthin, wo nachts das Mondlicht fiel, das er benötigte, um für sie und ihre Fantasie fleischlich zu werden. Wo er bald zu dem wichtigsten Bestandteil ihres Lebens wurde und er auch Anitas Blicken nicht schutzlos ausgeliefert war. Der einzigen Freundin, die sie noch hatte und die mit Sorge Sinas erschreckenden Wandel beobachtete. Doch Anita wusste auch, dass sie Sina nicht darauf ansprechen konnte. Sie hatte es einmal versucht und es sofort bedauert.
Sinas Ausbruch traf sie völlig unvorbereitet. Anita hatte das unglückselige Feuer in den Augen der Freundin gesehen. Besonders wenn sie von IHM sprach. Jene Gräuelgestalt, die sie Anita freudig erregt zeigte. Anita konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor eine derart furchteinflößende Skulptur gesehen zu haben. Von überragender Größe mit muskulösem Körperbau, erinnerte der Mann an einen Gladiator der alten Römer. Wenngleich seine Gesichtszüge, feingeschnitten und hart, an einen Adler erinnerten. Anita fröstelte, als sie ihn das erste Mal erblickte. Liebend gerne wäre sie zurück in Sinas Wohnzimmer gegangen. Doch die Freundin zog es seit längerem vor, sich beinahe ausschließlich in ihrem Atelier aufzuhalten. Als wäre das ihre einzige Zufluchtsstätte. Anita hatte es vermieden, der Skulptur zu nahe zu treten. Aber als sich das nächtliche Mondlicht in deren Augen spiegelte, schrie Anita erschrocken auf.
Die Augen waren lebendig!
Nicht menschlich, aber lebendig.
Sina, darauf angesprochen, verhielt sich sichtlich stolz. Nahm Anitas Angst nicht wahr. Nahm auch deren hastigen Aufbruch widerspruchslos hin. Im Grunde ihres Herzens war sie sogar froh darüber. Sie war lieber alleine mit sich. Und IHM. So wie sie jetzt die Nacht zum Tag machte. Weil sie ihr näher stand als dem gleißenden Licht des Tages, das ein Beisammensein mit ihm vereitelte.
Ohne es zu bemerken, wurde Sina ein Schattenwesen.
Ein Wesen der Nacht.
Und immer mehr nahm die Skulptur, die von Nacht zu Nacht lebendiger wirkte, wenn Sina sie ansah und sie ihr die Stimme zurück hinter die Stirn schickte, wahre Gestalt an. Der Tonfall hatte sich verändert. Er war lauernder und lockender geworden. Auch nannte er sie längst nicht mehr Tochter, sondern Schöne. Mit einem Timbre, das ihr Hitzewellen in den Körper sandte. Sie erotisierte. Letzteres erschreckte sie. Aber immer wieder zog es sie in seine Nähe. Sie strich mit ihren feingliedrigen Künstlerhänden zögernd über die perfekt herausgearbeiteten Muskelstränge des Oberkörpers. Und zuckte zurück. Das einst tote Material war eindeutig lebendiger geworden. Wärmer, weicher. Sie wollte zurücktreten. Distanz zwischen sich und ihm schaffen. Es gelang ihr nicht. Die Stimme hinter ihrer Stirn hielt sie zurück. Berühre mich!. Sina betrachtete die Skulptur. Der Körper des Mannes stand immer noch bewegungslos vor ihr. Nur die Muskelpartie, die sie vor wenigen Sekunden berührte hatte, zuckte. Ein Gedanke blitzte in Sina auf. Der aberwitzig, aber auch verführerisch war. Sie trat näher an die Skulptur heran, stellte sich auf die Zehenspitzen und ertastete mit den Fingerspitzen Mund und Augen. Dann trat sie hastig zurück und wartete auf eine Reaktion. Die auch augenblicklich eintrat. In die Augen trat ein Feuer, das Sina verbrannte, sobald sich der Blick auf sie richtete. Und erstmals öffnete sich der Mund. Erstmals erklang die Stimme nicht nur hinter ihrer Stirn. Dunkel und nachtschwarz. Einlullend und betörend verrucht.
" Berühre mich, meine Schöne!"
Er streichelte ihr Gesicht mit seinen dunklen Augen. Sina konnte sich dem hypnotischen Einfluss seines Blickes nicht entziehen. Sie musste wieder an ihn herantreten, jede auch noch so kleine Stelle seines Körpers, der immer mehr zum Leben erwachte, berühren. Seine Stimme war nun in ihr und umfloss sie gleichzeitig wie die tanzenden Schatten an der Wand, die ihr zeigten, dass es Zeit war. Hauche ihm Atem ein!, säuselte es.
" Hauche mir Atem ein!", befahl nun auch er.
Sina zuckte zusammen. Sie wusste, noch war es Zeit, den Wahnsinn zu beenden. Aber gleichzeitig wurde ihr auch klar, dass sie schon zu sehr in seinem Bann stand. Sie sah das triumphierende Blitzen in seinen Augen, als sich ihre Lippen auf seine senkten.
Er war das, was sie sich schon immer insgeheim gewünscht hatte. Und es machte für sie keinen Unterschied, dass er sich auf der dunklen Seite bewegte. Immer noch gab sich Sina dem Irrglauben hin, sie könne sich ungestraft in beiden Welten bewegen. Je nach Belieben. Sie floss mit ihm durch die Nacht. Stieg wie ein vereinter Schattenvogel mit ihm auf. Der Wind kühlte die Hitze ihrer Haut. Jene Hitze, die er in ihr wachgerufen hatte. Doch ihre Seele sehnte sich bereits nach dem goldenen Licht der Sonne. Sina spürte den harten Körper neben sich, der sie im Flug fest an sich presste. Die besitzergreifende Geste löschte ihre Sehnsucht nach der Lichtwelt aus. Sie wollte nur noch bei ihm sein. Bei ihm, den das Buch den Dunklen Baron genannt hatte. Und an dessen Existenz sie nicht geglaubt hatte. Der von ihr und ihrem Geist Besitz ergriffen hatte, von der ersten Sekunde, als sie das Buch über die Schattenwelt aufschlug, und der sich nun auch ihres Körpers bemächtigte. Der Gehorsam und Unterwerfung von ihr forderte, was sie bisher jedem Mann verweigert hatte. Ihm bot sie beides dar. Und noch mehr.
Als habe er in ihren Gedanken gelesen, murmelte seine dunkle Stimme etwas Selbstgefälliges und brach dann in ein rauhes, schauriges Gelächter aus. Hinter ihnen flossen stumme Phantome der immer währenden Nacht. Der schwarze Schlund, der sich in Sina aufgetan hatte, verschlang sie. Und sie fielen. Erst war es langsames Trudeln, dann ein immer schneller werdender Fall. Sina klammerte sich noch fester an den muskulösen Körper.
" Oh Gott!", rief sie, als ihre Seele in die ewige Dunkelheit gezogen wurde.
Das Letzte, was sie vernahm, war sein maliziöses Kichern. "Der kann dir jetzt auch nicht mehr helfen, meine Schöne. Du gehörst nun mir."


Und Sina fühlte mit Entsetzen, dass die Schattenwelt sie nicht mehr freigab.


Anmerkungen:
18. Jul. 2007
bereits veröffentlicht im Buch "jenseits des happy ends" 


Veröffentlichung auf www.leser-welt.de mit freundlicher Genehmigung von LITERRA.

Facebook-Seite

FB

Partnerprogramm

amazon

Mit einem Einkauf bei amazon über diesen Banner und die Links in unseren Rezensionen unterstützt du unsere Arbeit an der Leser-Welt. Vielen Dank dafür!

Für deinen Blog:

BlogLogo