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Die Wintersonne hängt tief am Horizont. Ihr Licht ist kalt und voller Farben – Vanadiumgelb, Krapplack, Kobaltblau in dunklen Schlieren. Die Wolken sind aus Grau gesponnen, Kälte und Elfenbein. Nur an den Rändern hängt ein Hauch von Rosa.
„Wir müssen reden“, sagt er.
Anna starrt aus dem Fenster. Sie dreht sich nicht um. Sie weiß, was er sagen wird.
„Bitte“, drängt er.
Stoff raschelt.
Er umkreist die Staffelei. Plötzlich steht er im Licht. Sein Körper glüht auf im Abendrot. Wie Blut, denkt sie.
„Warum?“, fragt sie tonlos.
„Wir können so nicht weitermachen.“
„Ja.“ Der Pinsel zittert in ihren Fingern. 
Ihr Blick wischt über den Schnee hinter hohen Scheiben, verharrt ganz kurz auf seinen Händen und wandert hinauf zu seinem Gesicht. Ihre Augen treffen sich. Eine Träne fängt sich zwischen den Wimpern. Sie blinzelt sie weg.
„Anna“, setzt er an, „du weißt, ich will dich nicht verletzen.“
Wie leicht ihm das über die Lippen geht. Sie fragt sich, ob sie ihn hassen kann.
„Ich schätze dich immer noch sehr.“ Er hebt die Hände, eine hilflose Geste.
Kein Wort von Liebe, denkt sie.
„Wir hatten eine gute Zeit.“
„Ja.“ Sie hört kaum die eigene Stimme. Den Blick auf ihn gerichtet, streckt sie ihre Finger nach dem Farbenkasten und zieht ihn näher heran. Unstet tastet sie über Metall und Papier.
„Es wird schon dunkel“, sagt er leichthin. „Die Tage sind so kurz.“
Sie nickt.
Er langt nach dem Lichtschalter, doch sie hält ihn auf, mit einer kleinen Geste. Das Zwielicht macht es leichter. Leichter für sie.
Leichter für ihn.
Er zieht die Hand zurück.
Sein Atem klingt laut in ihren Ohren.
„Ich werde mir eine Wohnung suchen“, sagt er. „Du wirst mich gar nicht vermissen. Ich lasse alles so, wie es ist.“
„Du ziehst zu ihr.“ Wie hart das klingt.
Verlegen lächelt er.
„Nein, es ist nur…“ Seine Worte stocken, er hält inne. „Auch wegen der Arbeit“, fügt er hinzu. „Die ganze Fahrerei.“
So fadenscheinig.
„Warum nur – “, ihre Stimme wird schrill, „warum kannst du nie sagen, wie die Dinge wirklich sind?“
Ihre Hand wird hektisch zwischen den Farben. Schatten kriechen über den Boden. Hastig schiebt sie die Tuben beiseite.
Er scheint es nicht zu bemerken.
„Ich will dir nicht wehtun.“ Auch das eine Lüge. Ein Haus, ein Leben aus Lügen gebaut. „Wir haben uns immer vertraut.“
Anna betrachtet sein Gesicht im Zwielicht. Trauer zerdrückt ihr die Kehle. Über das, was war. Was vor ihnen liegt. Das Gefühl von Verlust überwältigt sie schier.
„Können wir das nicht regeln wie erwachsene Menschen? Wir sind doch beide vernünftig.“
Wie schafft er es, so ruhig zu sein?
Sie weiß es schon lange. Sie weiß, dass er gehen wird. Sie hat ihn bereits verloren.
„Kein Zurück?“, fragt sie.
Es ist eine rhetorische Frage.
Er schüttelt den Kopf. Irritiert bemerkt sie einen Hauch von Bedauern in seinem Blick. Oder ist es ein Schatten? Ja, wahrscheinlich ein Schatten, nicht mehr.
„Morgen fahre ich“, erklärt er. „Ich nehme nur ein paar Sachen mit.“
Anna presst die Lippen zusammen. Ihre Hand schließt sich fest um das kalte Metall.
Sieht so der Abschied aus? In ihren Träumen war es anders. Mehr Pathos, denkt sie, während neue Tränen in ihren Wimpern hängen bleiben.
Sie schließt die Augen.
Und öffnet sie und hebt die Hand.
So ungewohnt das Gewicht.
Sie registriert seine Überraschung, für einen Lidschlag. Sein Blick, der sich auf einmal weitet. Er setzt an, um etwas zu sagen. Und seine Hände –
„Ich liebe dich.“
Er schüttelt den Kopf, stumm vor Erstauen.
„Wir hatten eine gute Zeit.“
Der Knall ist ohrenbetäubend, der Rückstoß staucht ihr Handgelenk. So hat sie es sich nicht vorgestellt. In ihren Ohren schrillt ein Klingeln.
Sehr langsam bricht er in die Knie. Dann sinkt er nach vorn, die Zeit steht still, verschmilzt mit den Schatten am Boden.
„Es tut mir leid“, flüstert Anna.
Sie beugt sich vor, den Pinsel noch in ihrer Hand.
Krapplack, denkt sie flüchtig, in langen Schlieren. Sein Blut ist warm. Sie zögert noch. Doch schließlich taucht sie den Quast ins dunkle Rot.
Und malt den Horizont.


Anmerkungen:
19. Aug. 2008
bereits veröffentlicht im Buch "Begegnungen. All dies und auch der Himmel." 


Veröffentlichung auf www.leser-welt.de mit freundlicher Genehmigung von LITERRA.

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