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Inspiriert durch eine wahre Geschichte erzählt E.L. Doctorow von den Brüdern Homer und Langley Collyer, die ihr Haus an der New Yorker Fifth Avenue mit Objekten ihrer obsessiven Sammelwut vollstopfen und nach und nach ihre Verbindungen zur Außenwelt kappen. Die jedoch klopft in Form von Besuchern immer wieder an die Haustür. Mit einem grandiosen Kunstgriff lässt Doctorow die Geschichte der ersten achtzig Jahre des 20. Jahrhunderts Revue passieren: berührend, witzig und einzig und allein aus der Perspektive der beiden exzentrischen Einsiedler.

 

Originaltitel: Homer & Langley
Autor: E. L. Doctorow
Übersetzer: Gertraude Krueger
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Erschienen: 2011
ISBN: 978-3-462-04298-6
Seitenzahl: 219 Seiten

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Die Grundidee der Handlung
Die Verlagsinhaltsangabe gibt das Buch in einigen Punkten nicht ganz korrekt wieder. Ja, die Collyer Brüder sind zwei verschrobene Exzentriker, die ein zurückgezogenes Einsiedlerleben mitten in Manhattan an der Fifth Avenue führen. Ihr Haus füllt sich mit den Jahren bis zur Decke mit allem möglichen Kram, angefangen von den täglichen Zeitungen bis hin zu einem Ford Modell T, doch sammelwütig ist nur einer von ihnen, Langley, und erzählt wird allein aus der Perspektive von Homer.

Es ist nicht so, dass die Brüder sich von Anfang an abschotten und merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag legen. Es sind die Lebensumstände und einige Zufälle, die sie nach und nach dazu bringen bzw. zwingen: der frühe Tod der Eltern, der Erste Weltkrieg, aus dem Langley traumatisiert zurückkehrt und der seinen Charakter nachhaltig verändert, Pech mit den Frauen und natürlich auch Homers Erblinden. Die Geschichte unterhält und amüsiert wirklich großartig, denn unvorhergesehene Ereignisse und eine gute Charakterisierung vor allem der Nebenpersonen, sorgen dafür, dass im wahrsten Sinne des Wortes „Leben in die Bude kommt“ und der Leser auf empathische Weise mit einbezogen wird. Und ganz nebenbei zieht ein knappes Jahrhundert Zeitgeschichte wie im Flug an einem vorbei. Mit dem enormen Ideenreichtum hätten sich gut doppelt so viele Seiten füllen lassen, so kommt alles ein wenig kurz. Dies ist aber wirklich der einzige Kritikpunkt, der anzubringen wäre.


Stil und Sprache
In schöner, feinsinniger Sprache, der es einem humoristischen Unterton nicht entbehrt, berichtet Homer fast durchweg chronologisch und geleitet einen sicher, ohne Orientierungsprobleme durch den Plot. Eine gewisse Jaqueline spricht er immer wieder direkt an und sie ist es auch, für die Homer die Geschichte überhaupt in Brailleschrift festhält. Doch um wen es sich bei der geheimnisvollen Dame handelt, erfährt man wohlweislich erst gegen Schluss.
Homer ist im Laufe seines Lebens so mancher schöner Frau begegnet. Vielleicht ist es seine Blindheit, die ihn der Damenwelt gegenüber exotisch und sensibel erscheinen lässt und er deshalb mit dem weiblichen Geschlecht immer leichtes Spiel hatte. Geblieben ist keine von ihnen, so dass Homer sich letztendlich nur an seinen Erinnerungen laben kann. Er ist ein stiller Genießer mit Hang zur Melancholie, was diesen Textpassagen eine bittersüße Sinnlichkeit anhaften lässt. Überhaupt wird seine Chronik nicht nur von der Handlung vorangetrieben, sondern genauso von Gedanken, Erinnerungen, Wahrnehmungen und Empfindungen getragen. Wer jetzt allerdings vermutet, der Tenor des Romans wäre ernst und schwermütig, irrt gewaltig. Vor allem Langleys absonderliche Verhaltensweisen ließen mich oft schmunzeln oder ungläubig den Kopf schütteln, genauso sorgten die Menschen, die im Laufe der Jahre unter dem Dach der Collyers weilten, für beste Unterhaltung und so manches herzhafte Auflachen. Auf diese Weise lenkt Homer äußerst geschickt von der Tatsache ab, wie sehr er und sein Bruder sich mit der Zeit von der Außenwelt abschotteten, um in eine selbsterwählte Einsamkeit zu entfliehen. Erst gegen Ende machten mir die auf Unverständnis gründenden Anfeindungen und Verfolgungen der Außenwelt so richtig bewusst, zu welch schrulligen Exzentrikern die beiden in einem schleichenden Prozess mutierten. Eine unheilvolle Stimmung macht sich plötzlich breit und spätestens ab dem Zeitpunkt, als Homer ein zweites Mal vom Schicksal schwer bestraft wird, ist aus einer Komödie eine Tragödie geworden.


Figuren
Homer ist ein tiefsinniger, sensibler Mensch, der zu Lethargie und Depressionen neigt. Durch seine Blindheit automatisch eher ans Haus gefesselt, ist sein Bruder Langley die treibende Kraft. Mit seinen merkwürdigen Ideen und Anwandlungen zieht er Homer mit in dieses Einsiedlerleben, das mit den Jahren immer bizarrere Formen annimmt. Homer regte auf Anhieb mein Herz und das blieb bis zum bitteren Ende so.
Langley hat einen abgedrehten Charakter mit total verrückten Spliens, den ich nicht wirklich verstand. Er pflastert und zementiert nicht nur das ganze Haus bis zur Decke mit seiner Sammelwut ein, genauso provoziert er gerne, legt sich mit jedem an, der seinem und Homers Lebenswandel in die Quere kommt, doch seine allerbeste Seite tritt in der rührenden Fürsorge um Homer zutage. Für ihn schleppt Langley Klaviere, Schreibmaschinen und manch andere Gerätschaften ins Haus, will ihn mit einer wunderlichen Methode wieder zum Hören bringen und lernt sogar die Brailleschrift, als keine andere Verständigung zwischen ihm und seinem Bruder mehr möglich ist.

Die Nebenfiguren erweckt E.L. Doctorow schon auf wenigen Seiten zum Leben. Nachdem die Bediensteten mit den Jahren immer weniger werden, bis zuletzt keiner mehr von ihnen übrig ist, sind es später nur noch Gelegenheitsgäste, die die Collyers beherbergen. Prostituierte, Mafiosi, Hippies oder Reporter bevölkern die Geschichte und sorgen für Kurzweil.


Aufmachung des Buches
Hier handelt es sich um eine gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag, nur leider ohne Lesebändchen. Die eisgraue Szenerie des Titelbildes mit einer winterlichen Ansicht vom Central Park und zwei älteren Herren, die Manhattans Skyline im Bildhintergrund betrachten, finde ich zwar nicht schlecht gewählt, doch noch treffender wäre eines dieser typischen Stadthäuser Manhattans gewesen: mehrstöckig, schmal, mit Treppen, die zum erhöhten Hauseingang führen und einer Souterrainwohnung im Untergeschoss, natürlich alles stark heruntergekommen – so stellte ich mir jedenfalls das Anwesen der Collyers während des Lesens vor. Im Anhang vermisste ich ein paar Fakten über die echten Collyers oder Anmerkungen des Autors, wie es zu dazu kam über ihr Leben zu schreiben.


Fazit
E.L. Doctorows fiktiv gesponnene Geschichte um die bekannten Fakten der schrulligen Brüder Homer und Langley Collyer, die mitten in Manhattan ein Eremitendasein führten, ist eine Tragikomödie voller Wärme, Humor, Gesellschaftskritik und Leid. Selten passen diese gegensätzlichen Elemente so perfekt zusammen wie in dieser kleinen, aber feinen Erzählung. Ein paar Seiten mehr wäre hier bestimmt kein Fehler gewesen, denn für mein Empfinden flogen die Jahrzehnte fast ein bisschen zu rasch vorbei. 


4 Sterne


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