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Stefan Kalbers schickt seinen Protagonisten scheinbar ziellos durch die kalte, herzlose Welt, die um ihn herum in sich zusammenfällt. Er rutscht ab, gerät auf die schiefe Bahn und scheint unrettbar verloren, ist immer im falschen Moment am falschen Ort, an sich ein netter Kerl, aber ein Verlierer - und am Ende steht lediglich die Erkenntnis: Jemand muss atmen.

“Atmen. Jemand muss atmen. Und ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt. Jeden Tag mache ich weiter und beginne wieder von vorn. Aller Hoffnungslosigkeit zum Trotz. Ich weiß nicht, wovon andere Menschen träumen. Doch in meinen Träumen bewege ich mich stets durch ein dunkles, kaltes All.”

 

Atmen_Jemand_muss_atmen  Autor: Stefan Kalbers
Verlag: Ubooks-Verlag
Erschienen: September 2008
ISBN: 978-3-86608-083-6
Seitenzahl: 135 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Tiefe Nacht im Schnee des Winters. Zweihundertfünfzig Kilogramm gefrorenes Fleisch gilt es an den Mann zu bringen. Sergej klappert die Anlaufpunkte ab. Als der Deal über die Bühne gehen soll, greift die Polizei ein. Flucht nach vorn! In der folgenden Nacht kommt ein Betrunkener gerade recht. Eben noch mit der Taschenlampe eins über den Schädel gezogen, im nächsten Moment das Portemonnaie des Mannes um dreißig Euro erleichtert. In einem Strippschuppen am Rande der Innenstadt lernt er Yvonne kennen. Viel zu viel Alkohol. Der Morgen danach in einer Wohnung voller Müll, Schmutz und dreckiger Wäsche. In der Badewanne liegt Sergej. In der Brust steckt das große Brotmesser. Schlechte Neuigkeiten! Mit Hilfe einer kleinen Metallsäge ist das Problem schnell aus der Welt geschafft. In vier Portionen lassen sich die gefüllten Mülltüten hoffentlich leicht entsorgen. Just in diesem Moment steht Yvonne vor der Tür. Nach trauter Zweisamkeit und Intimitäten eskaliert die Situation. Die Spur führt ins Bad … Als der Schrecken weitestgehend verklungen ist, überlegen sie gemeinsam, die Tüten in Umzugskartons zu einer privaten Mülldeponie zu bringen und dort direkt in die Verbrennungsanlage zu schieben. Der Plan scheitert jedoch an der Kontrolle des Mülls im Eingangsbereich der Deponie. Am Abend hat Yvonne einen Job bei einer Privatfeier eines reichen Typen namens Lorenz. Eine feine Abendgesellschaft mit besonderen Vorlieben. Für Geld lässt sich eben (fast) alles kaufen. Zeit genug, sich der verpackten Körperteile auf dem Friedhof am Rande der Stadt zu entledigen. Ein frisches Grab mit aufgelockerter Erde unter einer feinen Schneedecke würde kein Aufsehen erregen. Niemand käme auf die Idee, hier lägen gleich zwei Leichen in ewiger Ruhe … Ende gut - alles gut?


Stil und Sprache
Während eines überschaubaren Zeitraums von rund einer Woche begleitet Stefan Kalbers einen Endzwanziger durch die Höhen und Tiefen seines Lebens. Sechzehn Passagen, ausgehend vom
20. November im Hier und Jetzt spiegeln im Wechsel mit kalendarisch benannten Rückblicken in erster Person Singular die turbulenten Ereignisse im Tagesablauf der Hauptfigur wider. Dessen Existenz ist beileibe nicht von Erfolg gekrönt. Was ihm in kurzer Zeit widerfährt, erleben andere Menschen in ihrem gesamten Leben nicht. Der Leser wartet vergebens auf Friede, Freude, Eierkuchen. Relativ nüchtern erzählt der Roman von Arbeitslosigkeit, Schulden, illegalen Geschäften, Vorstrafen, Sex und Drogen. Die Dinge werden beim Namen genannt, nichts wird beschönigt. Der Protagonist ist gefangen im Kreislauf negativer Erlebnisse. Selbstverschulden oder einfach nur Pech im Leben? Es ist, wie es ist. Nichts geschieht ohne Grund!
Jede Menge Adjektive und bildhafte Vergleiche konkretisieren Zustand und Handeln der Hauptfigur. Gedanken gleichen einer psychedelischen Reise durchs Universum. Endstation Ohnmacht. Nahezu philosophisch erfasst der Autor den Wahn, der zwischen Tristesse und Resignation, nicht zuletzt unter Einfluss von Drogen, langsam aber stetig Gestalt annimmt. Träume und Sehnsüchte stehen Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit gegenüber.

Die Hauptfigur bleibt namenlos. Durch detaillierte Beschreibungen von Situationen, Akteuren und Schauplätzen und einer intensiven Atmosphäre entsteht dennoch eine unmittelbare Nähe zum Geschehen. Weitestgehend sachlich, nichtsdestotrotz spannend erzählt, blitzen dann und wann allzu menschliche Emotionen durch. Backflashs hier und da eröffnen dem Leser die Tragweite der Ereignisse, sorgen für Erstaunen und erklären die Zusammenhänge. Stefan Kalbers zeigt Geschick im Umgang mit Worten. “Atmen - Jemand muss atmen!” liest sich angenehm flüssig und schnell.


Figuren
Ein Mann, Ende Zwanzig, verhunzt sein Leben wo er nur kann. Krumme Geschäfte, Prostituierte und Drogen. Kein Held, wie ihn sich Frau an ihrer Seite wünscht. Ein Versager auf ganzer Linie. Bleich, ausgehungert und ungepflegt vegetiert er jenseits eines regelmäßigen Tagesrhythmus' vor sich hin. Herrlich unangepasst tritt der Ich-Erzähler das gutbürgerliche Leben mit Füßen. Bewusst - unbewusst? Das liegt im Ermessen des Lesers. Aus der glorreichen Gesellschaft ausgegrenzt, doch stets bemüht, wieder Einlass zu finden. Er wohnt in einem Ghetto am Rande der Stadt. Ein sozialer Brennpunkt. Er fühlt sich fremd und verloren. Eintönigkeit, Ausweglosigkeit, Depression. Über Belanglosigkeiten des Alltags scheinbar erhaben, dennoch überfordert vom Leben bis hin zum völligen Kontrollverlust.

Stefan Kalbers setzt einen Mann in Szene, dessen Leben wissentlich den Bach runter geht. Die Bemühungen um einen Ausweg führen auf gerader Linie von Stolperstein zu Stolperstein. Und obwohl sich die Schicksalsschläge in rasanter Geschwindigkeit häufen, wirkt die Person rundweg authentisch und ob aller Widrigkeiten interessant und vielleicht sogar ein wenig sympathisch.


Aufmachung des Buches
“Atmen - Jemand muss atmen!” ist im handlichen Format als Taschenbuch in der Sparte Anti-Pop des Ubooks-Verlags erschienen.
Die Covergestaltung ist sehr minimalistisch, dafür aber umso auffälliger gehalten. Vor weißem Hintergrund zeigt das Titelbild unter Verwendung eines Motivs von Neil James eine Makroaufnahme einer seitlich liegenden Fliege. Leider atmet diese nicht mehr …
Auf der Rückseite des Romans erhält der Leser Informationen zum Buch und einen kurzen Auszug aus dem Inhalt.


Fazit
Interessant, spannend und provokativ.
Atmen müssen wir alle, doch keiner möchte mit diesem Mann tauschen!
Stefan Kalbers erzählt von der abtrünnigen Seite des Lebens, ehrlich und direkt, schonungslos realistisch.



Hinweise
Rezension von Patricia Merkel
Herzlichen Dank an Stefan Kalbers für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.


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