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Die späten Ängste großer Jungs

Dass alle ständig Witze über seinen Namen machen, ist für Anton „HimbeerToni“ Hornig im Augenblick das geringste Problem. Samstag sollte Party sein, die 25-jährige Auflösung ihrer Band Remo Smash feiern, das war der Plan. Jetzt erzählt ihm seine geliebte Geliebte, dass sie Familie will. Und auch die alten Bandmitglieder haben ihre eigenen Pläne. Allen voran Herr Blümchen, der schon beim ersten Bier durchblicken lässt, dass da grundsätzlich was nicht stimmt.

 

 

Autor: Joachim Seidel
Verlag: Piper
Erschienen: März 2010
ISBN: 978-3-492-25792-3
Seitenzahl: 214 Seiten

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Die Grundidee der Handlung
Nach dem Klappentext zu urteilen, könnte man leicht die These anstellen, Joachim Seidels Romandebüt hätte inhaltlich nicht viel mehr zu bieten als das, was man schon zigmal anderswo gelesen hat. Tatsächlich bestätigte sich für mich erst einmal dieser Gedanke: Charts aus Lebenskrisen gab es bereits vor 10 Jahren bei Nick Hornby und auch die Angst großer Jungs, endgültig erwachsen zu werden und Verantwortung für eine Familie zu übernehmen, ist wahrlich nichts Neues, jedoch beim Weiterlesen wird man eines Besseren belehrt. Zum einen, weil der Fokus von Toni und seinen Problemen abwechselnd auf seine Remo Smash-Bandkollegen gelenkt wird, zum anderen weil der Plot ab der Hälfte des Buches mit innovativen Ideen und Wendungen nur so sprudelt und außerdem saukomisch wird. Also saß ich fortan dauergrinsend über dem Buch und sendete insgeheim Stoßgebete aus, die Seitenzahl möge sich wundersamer Weise verdoppeln, was natürlich nicht geschah.

Da Joachim Seidel selbst Ende der Siebziger Mitglied der Punkband 'Remo Voor' war, welche die Single 'Toilet Love' herausbrachte, und Kolumnen für die Frankfurter Rundschau schrieb, liegen die Parallelen zu seiner Hauptfigur - dem ebenfalls schreibenden Altpunk Toni Hornig - auf der Hand.


Stil und Sprache
Den inhaltlichen Bezug zur Musikszene macht schon die Kapitelunterteilung in eine A- und eine B-Seite wie bei einer Schallplatte deutlich. Auf der A-Seite dreht sich alles um das 25-jährige Bandauflösungsjubiläum von Remo Smash, über die B-Seite möchte ich an der Stelle nichts verraten, da es dort unheimlich turbulent, mit vielen unvorhersehbaren Wendungen zugeht. Neben den Kapitelnummern sind die Kapitel noch mit knackigen Schlagwörtern übertitelt, die man durchaus als leichte Spoiler ansehen könnte.

Dass der Autor ganz genau weiß, wovon er spricht, wenn er über die Punkszene der späten Siebziger und Achtziger schreibt, ist der größte Trumpf der A-Seite. Wer sich damit auskennt, ist hier klar im Vorteil, hat man als Leser - so wie ich - davon allerdings wenig Ahnung und kann mit diversen Bands und Titeln herzlich wenig anfangen, dann liest sich dieser erste Teil ziemlich zäh, zumal Tonis Beziehungsprobleme mit seiner schwangeren Freundin Ada mir ebenfalls nichts Neues boten. Weitaus interessanter und amüsanter als Toni und Ada fand ich hier die Nebencharaktere, hauptsächlich Tonis Ex-Bandkollegen und sein stelzenlaufender und bauchredender Nachbar aus dem Kosovo. Entsprechend enttäuscht war ich deshalb auch, als sich seine Kumpel mit dem Ende der Jubiläumsfeier wieder verflüchtigten. "Na prima, jetzt kann ich mir über die restlichen100 Seiten Tonis Gejammer anhören" dachte ich insgeheim. Doch weit gefehlt, denn mit der B-Seite kommt die Handlung erst so richtig auf Touren! Urkomisch, wendungsreich, rasant und unvorhersehbar gestaltet sich von nun an die Geschichte – und der HimbeerToni wuchs mir dabei Stück für Stück ans Herz. Während er von einem Schlamassel in den nächsten stolpert, passiert genau das, wogegen er sich anfangs so vehement sträubte:  Er lernt Verantwortung zu übernehmen und wird fast schon nebenbei doch noch erwachsen.

Den ganzen Roman über schreibt Herr Seidel so wie ihm der Schnabel gewachsen ist: schnoddrig und mit viel Selbstironie, ideal also zum Schlingen. Gelegentlich kann man aber auch über Sätze wie diesen stolpern: Ada fixiert mich wie einen bewegungsgestörten Autisten, dem gerade das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom diagnostiziert, das Ritalin von der Kasse gestrichen und die Pflegeversicherung gekündigt wird.

Gut gefiel mir auch der Hamburger Lokalkolorit, denn diverse Straßennamen, Örtlichkeiten und Lokalitäten begleiten einen stetig durch die Handlung. Hamburger werden sich beim Lesen gleich wie zu Hause fühlen.


Figuren
In 'HimbeerToni' schneiden die Nebenfiguren mindestens genauso gut ab wie die Hauptfiguren. Ich erwähnte ja bereits, dass es zu Beginn eher die Nebenfiguren waren, die meine Aufmerksamkeit gewannen. Bei Toni dauerte es etwas, bis bei mir das Eis schmolz, dann aber gründlich. Ab dem Zeitpunkt, wo er nicht mehr über seine Probleme lamentiert, sondern entweder lakonisch darüber hinwegsieht, ihnen beherzt ins Auge blickt oder sie versucht anzugehen, begann ich ihn zu mögen. Seine Freundin Ada erlangt erst spät Wichtigkeit und bleibt insgesamt recht blass. Eigenartigerweise erhält Tonis Ex Judith viel mehr Aufmerksamkeit, was mir irgendwie nicht zusammen passen will.
Am köstlichsten amüsierte ich mich über den Nachbarn von oben, der mit nächtlichen Stelzenlauf-Proben Toni und Kumpel Holgi von gegenüber beinahe in den Wahnsinn treibt. Der ehemalige Kosovo-Albaner ist nämlich Stelzenartist und Bauchredner. Zum Kugeln ist das Englisch-Deutsch-Kauderwelsch, das Toni und Holgi mit ihm radebrechen. Ebenfalls für heftige Lachanfälle sorgte Polizist Schlangeleidt. Der Ärmste fühlt sich von Tonis Eskapaden dermaßen gebeutelt, dass er unter Verfolgungswahn zu leiden beginnt. Zum Glück wird er nach Altona zwangsversetzt, doch vor Toni ist er selbst da nicht sicher…
Tonis Ex-Bandkollegen von Remo Smash, Holgi Helvis, Herr Blümchen oder Doppelzett und Kurtchen kommen allesamt sehr sympathisch und glaubhaft rüber. Holgi wohnt bei Toni gegenüber, auf der gleichen Etage. Er ist Radio-DJ und passionierter Elvis-Fan. Seine Liebe zu dem Rock ’n’ Roller geht sogar soweit, dass man Holgi am helllichten Tage in voller Elvis-Montur mit Paillettenanzug und aufgedunsener Gesichtsmaske antreffen kann. Herr Blümchen dagegen ist ein 100 kg schwerer Koloss mit einer halben Million Schulden auf eine Online-Drive-In-Bäckerei, die er wohl zeitlebens nicht im Stande sein wird zurückzuzahlen. Kurtchen hat sich bei einem Indonesien-Urlaub eine Inselschönheit angelacht, doch in Deutschland angekommen, findet Sheila Kurtchen lange nicht mehr so liebenswert wie auf Borneo. Ob sich für alle Beteiligten doch noch alles zum Guten fügt, wird natürlich nicht verraten.


Aufmachung des Buches
Auf dem roten Cover des Taschenbuchs sticht sofort der heraus gestanzte, silberfarbene Bierverschluss mit einem Herz-Anker-Symbol ins Auge. Weiterer Eye-Catcher ist der zweifarbige Titel in Großbuchstaben, dagegen wirkt der Autorenname recht unauffällig. Aus der Covergestaltung kann man zwar nicht sofort auf den Inhalt schließen, aber sie macht Lust, das Buch in die Hand zu nehmen. Auf der ebenfalls roten Rückseite sind lediglich die Inhaltsangabe sowie eine Kurzkritik in Weiß abgedruckt.


Fazit
Liest sich der erste Teil, in dem die Nebenfiguren noch das Beste sind, ein wenig zäh und einfallslos, so überrascht der Autor im weiteren Verlauf mit einem urkomischen, wendungsreichen und unvorhersehbaren Plot, bei dem ich abwechselnd lauthals lachte oder leise vor mich hin kicherte (passiert mir höchst selten beim Lesen). Wie gerne hätte ich am Schluss noch ein paar Seiten mehr gehabt von dieser köstlichen Lektüre, die mich den schleppenden Anfang schnell vergessen ließ.


3 5 Sterne


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