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Kategorie: Geisteswissenschaften, Kunst und Musik

"Du mußt dein Leben ändern!" Die Stimme, die Rilke im Louvre zu sich sprechen hörte, hat sich inzwischen von ihrem Ursprung gelöst. Binnen eines Jahrhunderts ist sie in den allgemeinen Zeitgeist eingeflossen, ja, sie ist zum letzten Inhalt all der Kommunikationen geworden, die um den Globus schwirren. Es läßt sich nicht leugnen: Die einzige Tatsache von universaler ethischer Bedeutung in der aktuellen Welt ist die allgegenwärtig wachsende Einsicht, daß es so nicht weitergehen kann.

 

  Autor: Peter Sloterdijk
Verlag: Suhrkamp
Erschienen:  2009
ISBN: 978-3-518-41995-3
Seitenzahl: 714 Seiten


Stil und Sprache
Wenn man sagen würde, "Du mußt dein Leben ändern" wäre ein leicht lesbares Buch, würde man sich und viele andere Leser wahrscheinlich ein Stück weit überschätzen. Es ist eher ein Werk bei dem man sich - auch wenn es sich oft tatsächlich locker liest - manchen Abschnitt noch mal im Kopf und auf der Zunge zergehen lassen muss. Natürlich: hier geht es um Philosophie und somit um das, was hinter den Dingen steht, um Doppeldeutigkeit und die Frage, ob nicht doch alles ganz anders sein könnte. Peter Sloterdijk ist jedenfalls ein guter Erzähler. Es kommen zum Thema des Übens und Erkämpfens, um das es hier gehen soll, passend, z.B. die Vorstellungen von de Courbertin, dem Erfinder der neuzeitlichen Olympischen Spiele zur Sprache und das ist wirklich spannend und in seiner teilweisen Abstrusität auch mit Witz dargestellt. Es ist ein angenehmer und literarischer Stil, manchmal schon ein bisschen weitschweifig. 


Umsetzung, Verständnis und Zielgruppe
"Du musst dein Leben ändern" ist ein charakteristischer Gedanke für die Unsicherheit des Menschen in der Postmoderne - Alles ist verhandelbar und wandelbar. Man hat sein Leben komplett selbst in der Hand - Oder ist das nur scheinbar so? Das Wichtige ist die Ermächtigung, das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Das ganze ist letztlich Übung und Artistik. Sloterdijk verfolgt diesen Gedanken zurück bis zu den Olympioniken des alten Griechenland und zieht von hier aus Querverbindungen zu den Mönchen und Nonnen des Mittelalters, deren Leben als "Athleten des Glaubens" auch (fromme) Übung war. So landet er auch in der modernen Philosophie, z.B. bei Wittgenstein, der "Kultur als Ordenregel" begreift. Ein wichtiger Begriff ist "Immunisierung", hier wird der Beginn aller Systembildung verortet. Im Bereich des Biologischen bilden sich als System die Lebewesen, dem gegenübergestellt verweist Sloterdijk auf die Kultur, deren System die kulturelle Praxis bildet und deren Zentralpraktik die der Übung ist. Übung ist das Bestreben, sich materiell, sysmbolisch und rituell zu perfektionieren. Die Techniken, die sich der Mensch zu dem Zweck angeeignet hat, werden deklarierend unter dem zusammfassenden Begriff "Anthropotechnik" behandelt. Darum geht es in diesem Buch: Wie schaffen die Menschen es heute, aber auch in der Vergangenheit, sich aus einer passiven Haltung zu befreien und "über sich selbst hinauszuwachsen"?

"Du musst dein Leben ändern" (übrigens des Schluss von Rilkes Sonett "Archaischer Torso Apollos") wird tatsächlich als eine zentrale Forderung echter Kultur herausgestellt. Es ist Aufforderung, sich aus Abhängigkeiten herauszubegeben und falschen Vorstellungen abzuschwören, zu denen hier auch der Bereich des Religiösen gezählt werden kann.

Das Buch ist nicht nur Philosophie, sondern es verfolgt durchaus auch einen kulturwissenschaftlichen Ansatz. Kultur ist eines der Kernthemen des Werkes. Es erläutert auch philosophiegeschichtlich, wie verschiedene Denkmodelle voneinander beeinflusst wurden und wie sie aufeinander aufbauen und andererseits nicht im luftleeren Raum schweben, da die Denkweisen auch hier von Zeit und sozialem Zusammenhang beeinflusst sind.

Zielgruppe sind alle, die sich für Philosophie und kulturgeschichtliche sowie religiöse und zeitaktuelle Fragen interessieren und idealerweise schon ein paar Kenntnisse auf diesem Gebieten mitbringen. 


Aufmachung des Buches
"Du musst dein Leben ändern" ist ein gebundenes Buch von etwas über 700 Seiten Umfang, entsprechend ist das Papier relativ dünn. Das Schriftbild ist angenehm und gut zu lesen. Das Cover ist eher schlicht aufgemacht. Weißer Hintergrund, Titel und Name des Autoren, dazu eine Pyramide aus gleich aussehenden Gestalten im feinen Anzug, die das Thema Übung und Artistik symbolisieren sollen. Menschen, die als Artisten Pyramiden bilden, werden im Buch auch erwähnt.


Fazit
Es ist ein spannendes und auch in Kernaussagen gut verständliches Buch. Der Gedanke des Lebens als Übung ist tatsächlich in der Lage, den Leser über 700 Seiten bei der Stange zu halten. Interessant ist das Buch besonders dann, wenn es konkret wird und was ich besonders spannend fand, war der auf der Grundlage der Übung entwickelte Kulturbegriff. Gut, kleinere Längen können bei so einem Buch nicht ausbleiben, aber ich denke, ich habe es mit Gewinn gelesen und empfehle es gerne weiter an alle, die die Bereitschaft mitbringen, sich auf ungewöhnliche Gedanken und die Einladung zur Selbstreflexion einzulassen.


5 Sterne 


Hinweise
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