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Gerdi sagt, Dietrich sei ein Heimattourist gewesen. Er zeigt Fotos von anderen Heimattouristen. Hier, diese Alten am Kamin mit einem Glas Sekt und einem seligen Lächeln. Wahrscheinlich haben sie gerade einen alten Birnbaum aus der Kindheit entdeckt oder die Stelle, an der ihr Haus stand; haben sich an den Duft des Wermuts an einem heißen Tag erinnert und an den Pfad, den sie immer zum Fluss hinunterliefen. Dietrich kehrte in seine Heimat zurück, um sich umzubringen, denn er hatte Krebs. Er liegt auf dem Friedhof im nachbarlichen Drawiny, wo er einst zur Welt kam.

„Wlodzimierz Nowaks Reportagen zeigen die polnisch-deutschen Beziehungen in einem ganz neuen Licht, ohne alle Klischees, schonungslos offen, oft schmerzhaft, aber auch unterhaltsam. Wlodzimierz Nowak ist ein würdiger Nachfolger Ryszard Kapuscinskis, der einen ganz eigenen Stil entwickelt hat.“
(Martin Pollack, deutscher Übersetzer von Ryszard Kapuscinski)
  Autor: Wlodzimierz Nowak
Verlag: Eichborn
Erschienen: 2009
ISBN: 978-3-821-85829-6
Seitenzahl: 300 Seiten 


Stil und Sprache
Zwölf Reportagen enthält der vorliegende Band:
- Von Wanda, die den Deutschen nicht wollte
- Die Nacht von Wildenhagen (Mitautorin Angelika Kuzniak)
- Die Ufer immer näher
- Mutterherz, Tochterherz
- Die Abenteuer des braven Soldaten Manfred
- Kopfumfang
- Mein Warschaukoller (Mitautorin Angelika Kuzniak)
- Über die Neiße, über die Oder
- Adam und Ewka im Paradies
- Für die Robe über die Oder
- Der Radiowecker von Frau Mohs
- Zwei Minuten kontra drei

In all diesen Geschichten geht es um Deutsche und Polen und ihr – nicht immer einfaches - Verhältnis  zueinander. Die „deutsch-polnischen Zwischenfälle aus sechs Jahrzehnten“ (Klappentext) greifen die oft problematischen Beziehungen der Nachbarn auf. Insbesondere die Texte, die auf die Zeit des Dritten Reiches und den Zweiten Weltkrieg Bezug nehmen, gehen an die Substanz.
Vielfältig und immer wieder aufs Neue interessant sind die Reportagen. In diesem Buch habe ich keinen Text gefunden, der nicht gelungen ist.
Sprachlich und stilistisch wird Nowak zu Recht mit Ryszard Kapuscinski, dem „besten Reporter der Welt“ (‚Spiegel‘) verglichen. Der Autor schafft es immer wieder, dem Leser das Schicksal jedes einzelnen Menschen nahe zu bringen. Egal ob Pole oder Deutscher.


Umsetzung, Verständnis und Zielgruppe
Das menschenunwürdige Verhalten, das beschrieben wird, lässt einen fassungslos zurück. Da geht es zum Beispiel um die SS-Sondereinheit unter Kommandeur Dirlewanger, die für unglaubliche Grausamkeit und Brutalität bekannt waren. Der Text (Mein Warschaukoller) ist aufgrund der schonungslosen Berichterstattung durch den ehemaligen Wehrmachtsangehörigen Mathi Schenk fast unerträglich. Er stürmte als eine Art menschliches Schutzschild Dirlewangers Abteilung voran und wurde so auch zwangsläufig Zeuge unfassbarer Gräueltaten. Auch der Text über die Lebensborn-Heime („Kopfumfang“) schildert die schrecklichen Gewaltverbrechen der Nazizeit. Die Titelgeschichte („Die Nacht von Wildenhagen“) berichtet von den Massenselbstmorden von Wildenhagen.
Eine etwas andere Herangehensweise an die Zeit des Nationalsozialismus bringt „Die Abenteuer des braven Soldaten Manfred“. Ganz in Anlehnung an Haseks „Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“ lebt hier ein einfältiger Soldat „in den Tag hinein“. Mit viel Mutterwitz und mehr Glück als Verstand schafft Manfred, der jegliche Kampfhandlungen ablehnt, es immer wieder, dem Tod von der Schippe zu springen.
Der Band enthält aber auch Texte, die sich mit den jüngsten Beziehungen zwischen Deutschen und Polen auseinandersetzen. Da geht es zum Beispiel um die 1991 neugegründete Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder („Für die Robe über die Oder“) oder um einen dreiundzwanzigjährigen Schlepper, der seinen Lebensunterhalt mit dem Menschenschmuggel verdient („Über die Neiße, über die Oder“).

Die hervorragend recherchierten und brillant notierten Reportagen lassen die Figuren lebendig werden. Historisches Faktenwissen wirkt hier nie trocken, sondern ist stets gut verständlich. Trotz der oft sehr ernsten Themen schafft Nowak es, den Leser gut zu unterhalten. Das Buch ist nicht nur für historisch Interessierte, sondern vor allem auch für junge Menschen, die sich einmal mit dem „unbekannten Nachbarn“ Polen auseinandersetzen möchten hervorragend geeignet. 


Aufmachung des Buches
Das Buch ist fest gebunden und hat einen Schutzumschlag, der an ein Luftpostpäckchen erinnert. Die Gestaltung des Covers finde ich gelungen, da man gespannt ist, was das Päckchen enthält. Mich hat das Buch vor allem aufgrund des Untertitels „Zwölf deutsch-polnische Schicksale“ angesprochen, da ich mich sehr stark für Kulturkontaktforschung vor allem im Hinblick auf unsere östlichen Nachbarn interessiere.


Fazit
„Die Nacht von Wildenhagen“ ist in meinen Augen ein wichtiges Buch, das den Leser aufrüttelt und auf die Wurzeln der oft problematischen deutsch-polnischen Beziehungen aufmerksam macht. Dass es von einem Polen verfasst wurde, erachte ich als besonders interessant, da einem meistens nur die deutsche Perspektive geboten wird.
Vor allem auch für jüngere Leser – sehr zu empfehlen!



Hinweise
Rezension von Sigrid Grün


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