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Stefan Gemmel 1 

Am 14.03.2013 habe ich Stefan Gemmel – Autor zahlreicher Kinder- und Jugendbücher, Lesekünstler, Leiter von Schreibwerkstätten und Weltrekordler – auf der Leipziger Buchmesse zahlreiche Fragen zu seinem neuesten Buch "Sichelmond", aber auch zu seiner Arbeit als Autor im Allgemeinen stellen können.


Lieber Herr Gemmel, ich freue mich, dass wir uns auf der diesjährigen Buchmesse ein wenig unterhalten können. Ich möchte direkt mit einer Frage anfangen, die Sie wahrscheinlich schon oft gehört haben, aber immer wieder interessant ist: Warum schreiben Sie Kinder- und Jugendbücher?

Ich schreibe Kinder- und Jugendbücher, weil mich der Austausch mit den Kindern interessiert. Ich mache sehr viele Lesungen, Veranstaltungen und Workshops und dieser Austausch mit den Kids, die Diskussionen und die Anreize, die man da kriegt, das ist das, was mich total interessiert.


Was fasziniert Sie am Schreiben?

Beim Schreiben ist es so, dass ich diese Wege, die man gehen könnte, faszinierend finde. Gerade bei "Sichelmond" gibt es immer wieder Kreuzungen, an die man gerät, wo die Geschichte in diese und jene Richtung verlaufen könnte, und es ist für mich immer ein riesen Spaß und eine riesen Herausforderung, den wohl besten Weg heraus zu filtern – der es dann auch nicht immer ist. Dann sitzen nämlich die Jugendlichen vor meiner Nase und fragen "Hör mal, warum bist du den und den und den Weg nicht gegangen?" Und oft muss ich zugeben, dass ich diese Idee dann noch besser finde als meine, bloß bin ich an die Kreuzung eben nicht gekommen. Und das finde ich so spannend beim Schreiben.


Sie haben schon sehr viele Bücher veröffentlicht. War es schwer, damals das erste Manuskript überhaupt an den Verlag zu bringen?

Ja, unbedingt. Ich bin den ganz, ganz klassischen Weg gegangen: Ich hatte keine Ahnung und habe meine Bücher in die Welt geschickt – und habe auch jede Menge Fehler gemacht. Ich habe das christlich orientierte Buch an den ganz normalen Jugendbuchverlag geschickt und meine normale Geschichte dann an den Kreuz Verlag. Das war eine Katastrophe!

Zu meiner Zeit konnte man bei der Frankfurter Buchmesse noch zu den Ständen hingehen und das Gespräch mit den Lektoren suchen – eine Illustratorin hat mir den Tipp gegeben, da sie es so machte. Gut, es ist auch leichter, eine Mappe aufzumachen und die Bilder zu zeigen, aber sie sagte "Die Verlage sind immer interessiert an dem Gesicht dahinter. Geh doch hin, zeig dein Gesicht und deinen Text." Und das habe ich gemacht und tatsächlich haben auf diesem Weg auch gleich zwei Verlage zugesagt.


Wenn man sich nun anschaut, dass Sie der meistübersetzte Autor in Rheinland-Pfalz sind: Was meinen Sie, macht den Reiz an Ihren Geschichten aus? Was macht diese zu etwas Besonderem?

Früher hatte ich mal das Motto "Bücher mit Hintergrund". Mir ist ganz wichtig, dass die Geschichten nicht einfach nur Geschichten sind, sondern sie brauchen Tiefgang. Irgendwas muss immer dabei sein. Beispiel: "Mumienwächter". Das ist zwar eine witzige Gruselgeschichte, aber da gibt's den Freund, den Emre, den Türken, denn so ein bisschen Gehalt soll das Ganze schon haben. Ich möchte den Kindern was mitgeben. Und das habe ich bisher noch in jedem Buch irgendwie untergebracht. Manchmal vordergründig – bei Büchern wie "Rolfs Geheimnis" zum Beispiel, wo es um Außenseiter geht –, oder eben wie bei "Mumienwächter" oder jetzt bei "Sichelmond" ein bisschen versteckt, wo der pädagogische Zeigefinger gar nicht zu sehen ist, man aber am Ende des Buches merkt "Stimmt, da habe ich was gelernt."


Wie versetzen Sie sich – immerhin als Erwachsener – in die Welt von Kindern hinein?

Die Frage kommt auch öfter. [lacht] Ich habe meine Jugend sehr, sehr intensiv erlebt Ich hatte wahnsinns-tolle Freunde, mit denen man ganz tolle Abenteuer erleben konnte, und in die Zeit versetze ich mich einfach zurück. Ich frage mich jedes Mal: "Was hätte mich jetzt interessiert?". Ich schreibe die Bücher also nicht so, wie ich sie in dem Moment gerne lesen würde, sondern ich frage mich, wenn ich an dieser Kreuzung stehe, welchen Weg ich als 15, 16-jähriger einschlagen hätte – und dann schreibe ich diesen Weg und nicht den, den ich favorisieren würde, den psychologisch angehauchten ... [wegwerfende Handbewegung], sondern tatsächlich mehr die Jugendsicht.


Sie haben auch zwei Töchter. Lesen diese Ihre Bücher zuerst?

Ne, zuerst die Frau. Ich komme aus einem absoluten Nicht-Literaten-Haushalt, also meinen Papa habe ich noch nie mit einem Buch in der Hand lesen sehen, Zeitung ja, aber der liest auch meine Sachen nicht. Wenn ich mit so einem Ding komme [Fingerzeig zu "Sichelmond"], sagt der immer: "Erzähl mir, was drin passiert, bevor die Nachbarn fragen".
Deswegen hatte ich auch keine Ahnung. Ich habe gerne geschrieben, habe mit Gruselgeschichten damals angefangen, und dann habe ich meine jetzige Frau Doris kennen gelernt – wir sind 24 Jahre zusammen – und die hatte Deutsch LK. Also Ahnung. [lacht] Und dann habe ich ihr meine Geschichten gegeben – die waren alle blutrünstig. Sie meinte "Wie du schreibst ist klasse, aber was du da schreibst ..." Dann habe ich ihr zuliebe eine Kindergeschichte geschrieben und habe gemerkt: das ist es! So kam ich ans Schreiben.Stefan Gemmel 2


Heute ist Ihr neuestes Jugendbuch, "Sichelmond", im Baumhaus-Verlag erschienen. Was erwartet Ihre Leser in dieser Geschichte?

Es geht los wie in einem ganz normalen Krimi. Es gibt den Kommissar und Rouven, der herausfinden möchte, warum er in fremden und verwüsteten Wohnungen wach wird und die Besitzer nicht mehr aufzufinden sind. Alles beginnt wie ein "Was ist es und wer war es?", doch irgendwann driftet die Geschichte ab und der Leser denkt "Hey, das geht ja gar nicht!" Und das denkt er zweimal, dreimal, bis er merkt "Hoppla, es geht in die Mystery-Ecke." Und genau das sollte auch der Effekt sein. Es ist ein Mix zwischen Thriller und Mystery.


Sind Sie denn auch schon mal aufgewacht und wussten nicht, wie Sie da eigentlich hingekommen sind?

Sie meinen jetzt ohne Alkohol? [lacht] Ne, das nicht. Aber es macht irre Spaß, sich diese Situation vorzustellen. Am liebsten gibt man seine Hauptfigur in irgendeine Situation rein, die völlig abstrus ist, und dann steht man eben an der Kreuzung: Welchen Weg soll ich jetzt einschlagen?


Wie sind Sie auf die Idee zu diesem Roman überhaupt gekommen?

Tja, jetzt wird's ... Also in Schreibwerkstätten sage ich meinen Jugendlichen immer "Bereitet eure Geschichten vor." Und wenn ich dann in die Gruppe rein frage: "Wer von euch schreibt gerne und wer von euch hat Zuhause eine Geschichte liegen, die bei Seite 30 stecken geblieben ist, weil ihr nicht weitegekommen seid?" Zack, zack, zack gehen die Hände hoch. Sag ich: "Habe ich auch, hat jeder Autor, und deswegen bereitet euch eure Geschichten vor. Überlegt euch vorher, was passieren soll."
Das habe ich hier nicht gemacht. Ich hatte die Idee von diesem Rouven, der dort, in dieser verwüsteten Wohnung, erwacht, und die Überlegung, dass er jetzt diesen Fragen nachgehen soll, weil ich das als Fantasy-Idee einfach klasse fand. Ich habe das meinem Verlag vorgestellt und der sagte "Cool, mach das, schreib das. Wir brauchen das nächstes Jahr im Sommer, wir hätten gerne so um die 400 Seiten, gib Gas!". Dann bin ich da raus, hatte den Vertrag, alles war geklärt – meine Frau war dabei –, und da sagt sie "Von der Idee hast du mir vor langer Zeit mal erzählt. Ich wusste gar nicht, dass du weitergearbeitet hast." Ich dann so: "Hab ich ja auch nicht." [lacht] Und dann hat man durch die ganze Halle gehört "Wie kannst du was verkaufen, das es noch gar nicht gibt?" Und dann habe ich überlegt "Gott oh Gott, hast du einen Fehler gemacht?" Denn ich habe meine Geschichte ja gar nicht vorbereitet. Und wie so Zufälle sind – ist wirklich wahr! – schenkt mir mein Bruder, weil ich totaler Stephen King-Fan bin, eine Biografie von ihm – "Stephen King – Das Leben und das Schreiben" ...


Das kenne ich auch.

Echt, auch gelesen?


Klar!

Und da schreibt er doch direkt auf den allerersten Seiten, dass er die Autoren nicht verstehen kann, die immer alles vorbereiten. Erinnern Sie sich? Er sagt, man gibt eine Figur in eine abstruse Situation und will selber wissen, wie es jetzt weitergeht. Und genau das ist mir passiert. Ich habe also diese zwei Seiten geschrieben und dann geht's los. Jetzt geht Rouven raus aus dieser Wohnung und dann? Kreuzung. Nach Hause? Drei Zimmer, Küche, Bad? Unter die Brücke war jetzt ganz platt ... Wasserwerk! Wenn man bei uns aus dem Zimmer guckt, ist da eine ganz kleine Pumpstation – die wurde dann größer, mit Park und so –, aber das war die Idee.
Dann geht es weiter. Jetzt brauche ich noch eine Figur. Natürlich ein Mädel, klar. Wo findet der die? Am besten natürlich an einem Tatort. Die Einzige, die da ist. So hat sich diese Geschichte Stück für Stück regelrecht aufgedrängt. Als Dankeschön heißt auch Tabitha Tabitha. Das ist ja die Frau von Stephen King und er hat zu ihr genau so ein Verhältnis wie ich zu meiner Frau: also allererste Muse und die allererste Testleserin.

Irgendwann dachte ich "So, ich hab jetzt diese Nana, ich habe Tabitha, ich habe Rouven, alle haben irgendwie ihr Geheimnis – und jetzt?". Dann gehe ich Laufen. Das habe ich heute Morgen noch der Schülerzeitung erzählt. Ich ziehe mir Turnschuhe an und renne los und dann haben sich die ganzen Fäden zu einem Knoten verbunden und dann war die Geschichte da und musste nur noch geschrieben werden. Das Ding war in vier Wochen runter. Das war ein Hammer! Die Geschichte hat sich so aufgedrängt und ich habe auch gar nicht mehr aufgehört zu schreiben.Stefan Gemmel 3


Tja, die nächste Frage hat sich erledigt: Wie lange Sie an "Sichelmond" geschrieben haben ... Steht schon fest, wie viele Bände das werden?

Bisher ist nur der eine geplant. Nach den "Schattengreifern" sollte das mal ein Einzelband werden. Also erst mal ist Schluss. Aber wenn Sie das Ende lesen ... natürlich ist mehr möglich. Wir warten einfach mal ab, was der Leser sagt.


Nun möchte ich noch ein wenig auf das Schreiben als solches eingehen, wo wir gerade schon bei Stephen King und seiner Biografie waren: Haben Sie bestimmte Rituale, die Sie beim Schreiben einhalten, beispielsweise eine feste Schreibzeit oder eine festgelegte Seitenzahl pro Tag?

Unbedingt. Ich starte immer ganz gerne so, dass die Frau mit den beiden Mädels in die Ferien fährt, sodass das Haus leer ist. Vorher geht eine eMail an alle Freunde, Betreff: "Bin in Klausura", die kennen das. Und dann schreibe ich nur die Zeiten "Lasst mich in Ruhe von bis". Dann habe ich meistens so drei, vier Tage, die ich mich nur in die Geschichte vertiefen darf. Der Fernseher bleibt aus, das Telefon bleibt ausgestöpselt, und alles, was ich mir leiste, ist zwischendurch eine Stunde Laufen zu gehen. Und was zu essen, aber da stelle ich mir einen Wecker für, weil ich dann nur meine Welt habe und da ganz, ganz tief drinnen bin und mache nichts anderes, als mich darauf zu konzentrieren.
Also der Rekord – nicht bei "Sichelmond", bei einem anderen Buch – betrug 17 Stunden, in denen ich nur am PC gesessen und geschrieben habe. Und ich schreibe auch erst mal so, wie Stephen King das sagt: In einer Rutsche runter. Das habe ich schon immer so gemacht. Bis die Mädels dann nach drei, vier Tagen zurück sind, sind schon die ersten 50, 60 Seiten geschrieben. Dann bin ich drinnen und die zwei kleinen Mädels können auch nach Hause kommen, 'ne schlechte Arbeit haben, heulen und ich kann sie trösten, und wenn ich mich abends wieder dran setze, bin ich immer noch so tief in der Geschichte und habe alles so plastisch und bildhaft vor mir, dass ich sofort wieder an der Stelle einsteigen kann. Ich kann mitten im Satz stoppen und hinten wieder anfangen.


Wenn ich mir vorstelle, dass Sie 17 Stunden am PC sitzen und wie ein Verrückter in die Tasten hauen – wissen Sie dennoch immer, was gerade Realität und was Ihr Roman ist?

[lacht] Also die Wahrheit ist: An solchen Tagen träume ich tatsächlich auch nachts die Geschichte weiter oder noch mal anders oder bin selber in diesen Situationen. Ich habe das Wasserwerk im Traum gesehen und so habe ich es auch beschrieben. Ja, ich bin dann einfach ganz, ganz tief drin. Und es ist mir auch egal, was Realität ist und was nicht ist. Mir passiert ja nichts, ich bin ja Zuhause. [lacht]


Wenn Sie davon träumen, wachen Sie auch schweißgebadet auf, weil Sie plötzlich den Einfall haben, rennen an den PC und schreiben direkt weiter?

Ne! Dafür ist dann doch die Disziplin erst mal da. [lacht] Und ich bin abends fix und fertig und schlafe durch.


Wenn wir von "Sichelmond" einmal absehen: Planen Sie sonst Ihre Romane erst bis ins kleinste Detail und fangen dann erst an zu schreiben?

Bis ins kleinste Detail nicht, aber ich mache mir auf jeden Fall meinen Spannungsbogen klar, überlege mir die wichtigsten Szenen und vor allem meine Personen. Das ist mir das Allerwichtigste und das sage ich auch in Schreibwerkstätten. Es gibt einen Spruch, dass der Autor, wenn man ihn nachts um drei aus dem Bett klingelt, das Lieblingsessen seiner Hauptperson sagen können müsste. Das finde ich leicht übertrieben, aber in die Richtung geht's. Die ganze Geschichte lebt von den Figuren, ich sehe die vor mir und ich wüsste auch, was diese jetzt essen mag oder was zu ihr passt.
Ich habe einen historischen Roman-Kollegen, der macht das tatsächlich. Jede Szene hat der minutiös geplant – er findet es super, aber für mich wäre der Reiz weg.


Wie lernen Sie Ihre Figuren kennen? Setzen Sie sich hin und interviewen diese eine Runde? Oder schreiben Sie Charakterskizzen?

Beim Laufen, ehrlich gesagt. Ich laufe eine ganze Stunde und überlege nur, wie kann er oder sie sein? Und Zuhause angekommen schreibe ich mir diese Figuren dann tatsächlich DIN A4-Seiten lang auf. Ich bin da sehr, sehr eigen. Im "Schattengreifer" zum Beispiel erfährt man nicht einmal, welche Haarfarbe oder welche Augenfarbe der hat. Ich wusste das. Für das Schreiben war es mir jedoch nicht wichtig. Aber ich hatte natürlich meine Karteikarte mit dieser Personage.


Wenn "Sichelmond" ein Einzelband ist und wahrscheinlich auch bleibt: Woran arbeiten Sie aktuell?

Im Moment schreibe ich für Carlsen eine Bilderbuchgeschichte und habe mir da selber ein Ei gelegt. [lacht] Ich muss dichten! Ich habe mir eine Geschichte ausgedacht, die funktioniert nur als Gedicht, habe die Carlsen mit drei anderen Konzepten vorgelegt, und war mir sicher, dass zwei andere auf jeden Fall gut ankommen. Die Carlsen-Lektorin guckt da drauf und der Programmchef auch und beide sind der Meinung: "Wow, die Bilderbuchgeschichte, die nehmen wir!" Und jetzt muss ich dichten, das ist eine Qual! [lacht] Aber ich muss da jetzt durch. Ich finde es auch spannend, aber whuaaaa, das wird anstrengender, als hier sowas [Blick zu "Sichelmond"] ... Ehrlich.


Was genau macht denn für Sie ein richtig gutes Kinderbuch aus?

Meiner Meinung nach muss es authentisch sein, man muss den Autor darin wieder finden können. Also genau wie ich nicht einfach in den Tag rein lebe, sondern hoffe, dass jeder Tag mir noch mal irgendwie einen Impuls gibt, sollen auch die Bücher immer wieder einen Impuls geben. Ich finde, wenn jemand sehr bewusst lebt, sollten auch die Bücher bewusst geschrieben werden. Dann gebe ich nämlich dem Kind einen Teil von mir im Buch mit - wie immer sie oder er damit umgeht.
Deswegen schreibe ich zum Beispiel auch keine Fußballbücher, ich würde mich da total verbiegen, denn ich spiele kein Fußball. Das gäbe kein gutes Buch. Und deshalb: Wenn es authentisch ist und wenn es ehrlich ist, und nicht irgendwem hinterher geschrieben ist, nicht der siebte "Gregs Tagebuch"-Imitats-Versuch, dann finde ich, ist das Kinderbuch gut.


Sie schreiben nicht nur Kinderbücher, sondern leiten auch Schreibwerkstätten. Was reizt Sie daran, gerade jungen Menschen auf dem Weg zum Autor zu helfen?

Ich war alleine. Bei uns hat keiner gelesen und geschrieben schon gar nicht. Ich sage den Kids immer: Wenn ihr beim Lesen "erwischt" werdet, heißt es "Hey, was liest du denn da?". Wenn ich lesend auf dem Sofa saß und Papa kam rein, hieß es: "Also wenn du eh nichts Gescheites machst, kannst du mal den Hof kehren." [lacht] Lesen passierte heimlich und ich konnte auch keinen fragen – bis auf meine Deutschlehrerin, die mir schon mal Tipps gegeben hatte und bei der ich auch meine Texte abgeben durfte. Und später dann natürlich Doro, meine Frau.

Ich mag es einfach, den Kindern Anleitungen zu geben, also das wichtigste Handwerkszeug. Wenn man denen sagt: "Mensch, macht euch eure Personage klar, eure Figuren, und wenn ihr tatsächlich den Rahmen und die Handlung schon grob schnitzt, dann habt ihr das alles schon mal aus der Birne und braucht euch nur noch auf den Spaß am Schreiben und die Sprache zu konzentrieren." Ich merke und höre – und das sagen die mir auch –, dass denen das unheimlich viel gibt und hilft, und denke dann jedes Mal "Hm, hätte ich damals auch brauchen können."


Wie ist das mit ihren eigenen Kindern? Haben die auch Interesse daran zu schreiben oder sagen die eher "Bloß nicht!"?

Hannah reimt. [lacht] Hannah, die Große, ist totaler "Krabat"-Fan. Absolut. Und sie dichtet gerade "Krabat" nach und ist derzeit auf DIN A4-Seite 5. Die schreibt also total gerne.
Franzi fängt immer Geschichten an – die ist aber auch erst neun – und wird einfach nicht fertig. Sie hat immer eine super Idee und irgendwann dann nicht mehr und eine andere Idee – sie hat 20 angefangene Sachen.

Aber ganz kurz, denn eben haben Sie auch gefragt, ob die beiden auch lesen: Also Hannah zum Beispiel ist hier ["Sichelmond"; Anm. der Redaktion] mit einem roten Stift durch den Text – finde ich scheiße, finde ich langweilig, finde ich gut – und hat das Ganze tatsächlich redigiert, nachdem Doro das auch getan hat. Hannah ist eine ganz ruhige, eine Leseratte. Und Franzi ist eine Wühlmaus, die sitzt nicht gern – auch beim Fernsehen nicht, wenn da Bibi und Tina reiten, sitzt sie auf der Lehne und reitet mit –, aber beim Vorlesen, da kriegt man sie. Wenn ich ihr vorlese, gibt es noch keine Bilder – ich male ja nicht – und da merke ich wirklich ... wenn sie anfängt zu kibbeln oder den Teddybären an der Nase zu zuppeln, dann mache ich mir mit Bleistift einen Strich und sehe nachher tatsächlich, dass das ein Schachtelsatz ist oder dass ich abschweife oder dass ich etwas rausnehmen könnte. Insofern sind die beiden Mädels absolut, absolut wichtig für meine Arbeit. Eigentlich alle drei.


Gerade Kindern sagt man auch nach, dass sie mit die ehrlichsten Kritiker sind, weil die nicht denken "Oh mein Gott, wenn ich das sage, ist der Autor vielleicht ganz traurig, verzieht sich in die Ecke und weint eine Runde", sondern sagen einfach, wie es ist. Ist das ein Punkt, der den Reiz an Lesungen ausmacht?

Unbedingt! Absolut ehrliches Publikum, ja. Die wären heute Morgen [Stefan Gemmel hat auf der Leipziger Buchmesse aus "Mumienwächter" vorgelesen; Anm. der Redaktion] aufgestanden und gegangen, wenn es ihnen keinen Spaß gemacht hätte. Es gibt auch Lesungen, die funktionieren nicht, da stehe ich vorne und muss richtig kämpfen, bis ich die endlich habe. Aber meistens funktioniert es und ich fühle mich dann auch wohl und merke, wenn die Ideen oder auch die Art, wie ich die Geschichte vortrage, ankommen. Dann bin ich da echt Zuhause.


Am 12. Juni 2012 haben Sie es sogar ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft. Erzählen Sie uns doch bitte, wie es dazu kam.

Das war die bisher größte Lesung eines einzelnen Autors – das ist die offizielle Variante. Wir haben auf einer riesigen Wiese, die wir in Koblenz haben – direkt an der Festung gelegen – eine riesengroße Bühne aufgebaut, 6.000 Stühle gestellt und einen Zaun rundherum – das war eine Guinness-Vorgabe – und eine Stunde lang sollte ich Programm machen. Anfangs sagte Guinness, dass ich eine Stunde lang lesen müsse und dann schrieb ich "Muss ich lesen?", woraufhin zurück kam: "Nein, wir haben uns angeschaut, was Sie da machen. Sie machen zwar literarisches Programm, aber ganz viel drum herum. Wir möchten, dass Sie 35 Minuten lesen, der Leseanteil also hauptsächlich ist, alles andere soll literarisches Programm sein. Dann können Sie Weltrekordler werden." Daraufhin meinte ich: "Wenn es mir gelingt, mit den Kids zu lesen?" Da kam zurück "Dann sind alle Weltrekordler, die dort sind, erst zuhören, sich mit Literatur befassen, und nachher auch selbst gelesen haben."

Dann habe ich tatsächlich erst mal eine Geschichte geschrieben, die dort oben, auf dieser Wiese, spielt, habe die 35 Minuten vorgetragen, gleichzeitig wurden auf einer riesig großen Videowand Bilder zu der Geschichte gezeigt, weil wir auch erstes Schuljahr dabei hatten und da braucht man auch diesen Bilderbuchanteil. Und als das gestoppt war, haben wir einen gemeinsamen Text gelesen. Es waren 98 – oder 86? Auf jeden Fall jede Menge – Schulen da, die haben wir aufgeteilt und dann gab es blaue und rote Texte, die keinen Sinn ergaben. Das waren Fragmente, das waren halbe Sätze, halbe Gedichte; die einen blau, die anderen rot und mit mir als Erzähler hatten wir sozusagen drei Parts. Ich habe eine Geschichte konzipiert von zwei Königssöhnen, die sich auf dieser Wiese treffen. Es geht jetzt ums Erbe und das müssen sie hier jetzt im Kampf klären. Die haben aber keine Lust auf Blutvergießen, weil sie beide Leseratten sind, und rufen einen Gedichte-Wettstreit aus. Die aufs Kämpfen eingestellten Soldaten machen die übelsten Gedichte – und damit konnte man spielen. Der eine hatte die blauen Soldaten / Texte und der andere die roten und dann brüllen zum Beispiel die blauen: "Wir kommen hier nach langem Marsch und treten euch jetzt in den –" rot: "Bauch". Das Ganze hat sich immer wieder geschüttelt, bis sich am Schluss doch irgendwas ergeben hat und natürlich haben die Königssöhne am Ende gemerkt, dass sie eigentlich alle das Gleiche wollen und ... Auf dem Weg haben wir die ganze Stunde gefüllt und den Weltrekord geschafft.


Wie bitte kommt man auf so eine Idee?

Viele, viele lange Autofahrten mit sehr schlechtem Radioprogramm. Da fällt einem sowas ein. [lacht] Wenn ich auf dem Weg zu Lesungen bin, rappel ich einige Stunden im Auto runter, und wenn die Nachrichten wirklich zum dritten Mal gehört sind ...


Planen Sie weitere solcher außergewöhnlichen Veranstaltungen?

Nicht mehr in der Größe. Es gibt noch zwei Ideen für Weltrekorde, aber da muss ich mich erst noch mal mit Frau Bruns [Presseagentin; Anm. der Redaktion] auseinandersetzen, ob die sinnvoll sind, ob man die auch wirklich durchführen kann. Ideen sind immer da. Immer, immer, immer ...  Zum Beispiel für den "Sichelmond" war ich – einmal in die Tüte gespuckt, denn ich bin mir nicht ganz sicher – wohl einer der ersten Autoren, die einen Geocache dazu gemacht haben. Geocaching sagt Ihnen was?


Ja.

Stefan Gemmel 4Und hier folgt ja Rouven diesen Spuren. Da war es naheliegend, den Spuren im Internet zu folgen – man muss ein Rätsel knacken und eine Frage richtig beantworten – und dann findet man diesen Geocache. Solche Sachen, solche Spielereien, das fällt einem beim Autofahren ein und macht Spaß ohne Ende.


Heutzutage ist das nichts mehr mit Autor, stilles Kämmerlein, ab in den Keller, den ganzen Tag schreiben und nie das Tageslicht sehen?!?

Doch, die gibt's, aber ich kenne die nicht. [lacht] Wenn ich an die ganzen Kollegen denke, alle lesen viel lebendiger als früher, kaum einer setzt sich noch mit einem Glas Wasser in der Hand hin. Viele kommen mit der Gitarre oder ... Dieses Entertainment gehört immer mehr dazu.


Herr Gemmel, ich danke Ihnen für das spannende Interview und wünsche Ihnen noch viel Spaß auf der Leipziger Buchmesse!

Dankeschön! Hat viel Spaß gemacht.

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