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Theater ohne Kritik? Heute noch unvorstellbar, doch die Leser sind häufig unzufrieden mit dem Blick des Feuilletons auf das Theater. Die Kritik an der Kritik wird lauter: Die Kritiker, heißt es, schrieben an ihrem Lesepublikum vorbei. Vasco Boenisch hat sich auf die Suche gemacht und Stimmen gesammelt – die von Lesern und die von Kritikern. Was erwarten Leser und für wen schreiben Kritiker eigentlich? Mehr als zwei Dutzend Theaterkritiker, darunter Till Briegleb, Christine Dössel, Matthias Heine und Peter Michalzik, sprechen über ihr Selbstverständnis und geben einen aufschlussreichen Einblick in ein weitgehend unbekanntes Gewerbe. So erfahren Leser, was Kritiker denken, und Kritiker, was ihre Leser erwarten. Eine spannende Analyse der Missverständnisse.

  Autor: Vasco Boenisch
Verlag: Theater der Zeit
Erschienen: 2008
ISBN: 978-3-940-73726-7
Seitenzahl: 259 Seiten 


Stil und Sprache
Wie stellt man sich den urtypischen Theaterkritiker vor? Leicht angegrautes Haar, Nickelbrille, Baskenmütze und natürlich jeden Abend im Theater? Nach der Vorstellung setzt er sich bei einem Glas Rotwein und unzähligen Zigaretten an seinen Sekretär und verfasst einen Verriss, der tags darauf im Feuilleton zu finden ist. Dass die Realität anders aussieht und welche Rolle die Theaterkritik heute spielt, versucht Vasco Boenisch in der vorliegenden Untersuchung, mit der er 2008 promoviert wurde, zu klären.
Hier werden alle relevanten Fragestellungen abgedeckt. Von der Geschichte der Theaterkritik in Deutschland (wussten Sie z.B., dass auch Theodor Fontane Theaterkritiker war?), über die aktuelle Theaterkritik bis zum Rezipienten, dem mal mehr, mal weniger zufriedenen Leser und Theaterbesucher.
14 Kritiker überregionaler Feuilletons und 13 Theaterkritiker regionaler bzw. lokaler Tageszeitungen hat Boenisch befragt und dabei Interessantes herausgefunden: „In Deutschland gibt es im Jahr 2008 nur fünf Personen, die sich allein auf ihre Tätigkeit als Theaterkritiker einer Tageszeitung konzentrieren und diesen Beruf weitgehend ohne Einschränkungen ausüben können.“ (S. 239) Alle anderen arbeiten zeitweise für bis zu 40 (!) Auftraggeber, um über die Runden zu kommen. Esther Slevogt, freiberufliche Theaterkritikerin der ‚tageszeitung‘ in Berlin konstatiert deshalb lakonisch: „Als Theaterkritiker ist man eigentlich immer ein Prekariatsanwärter. Oder besser: schon ein -teilnehmer.“ (S.56) Boenisch nimmt uns die Illusion vom Bohemien mit Schal, der seine Brötchen mit dem Verfassen pointierter Besprechungen verdient. Für ein Zeilengeld zwischen 30 Cent und 1,50 Euro kann davon keine Rede sein. Wie soll man da den Ansprüchen des Publikums bzw. der Leserschaft genügen? Wie schafft ein Kritiker den Balanceakt „zwischen Hochkultur und Trash-Phänomenen“ (S.88)? Und für wen schreiben diese Kritiker in der heutigen Zeit überhaupt noch? Müssen sie wirklich für alle schreiben, auch für den „Bauern aus dem Hotzenwald“ (S. 95)? Dass dies freilich nicht der Fall ist, gar nicht sein kann, wird klar, wenn man den Abschnitt über die Leser der Theaterkritiken liest. Boenisch hat im Rahmen einer Umfrage in sieben deutschen Städten versucht, den Bedürfnissen der Rezipienten nachzuspüren. Herausgekommen ist – nicht ganz unerwartet -, dass nicht selten am Geschmack des Lesers vorbei geschrieben wird. Es geht aber gar nicht so sehr um eine weitere Popularisierung des Genres, sondern viel eher um den Wunsch nach kritischer Reflexion. Was Kritiker besser bzw. anders machen können oder müssen, kann man hier erfahren. Nur wenn die Verfasser von Theaterkritiken auf diese gewandelten Bedürfnisse der Leserschaft eingehen, hat die Theaterkritik eine Zukunft.

Obwohl es sich bei der vorliegenden Untersuchung um eine Dissertation handelt, ist der Text sehr gut lesbar. Die zahlreichen Interviewzitate ermöglichen einen sehr lebendigen Einstieg in die Materie. Man ist „unmittelbar dran“ am Kritiker und am Leser. Keine Spur von hilflosem Fachchinesisch, keine kleinkarierte Überausführlichkeit, wie man das in Doktorarbeiten leider viel zu oft findet. Boenisch schafft es hier, verständlich über ein Thema zu schreiben, über das man viel zu wenig weiß.


Umsetzung, Verständnis und Zielgruppe
Hervorzuheben ist insbesondere, dass hier die Betroffenen selbst zu Wort kommen. Boenisch ergeht sich nicht in vagen Vermutungen, sondern führt Originalzitate aus Interviews und der standardisierten Befragung der Rezipienten an. Dies macht die Untersuchung so interessant, zumal die Meinungen der Kritiker oft sehr stark divergieren. Dadurch lassen sich häufig interessante Rückschlüsse auf Tendenzen ziehen. Was unterscheidet z.B. die Theaterkritik in der regionalen Presse von der überregionalen Kritik? Die sinnvoll strukturierte Gliederung trägt ebenfalls dazu bei, dass die vermittelten Inhalte sehr gut nachvollziehbar und verständlich sind. Angesprochen werden natürlich vor allem Menschen, die sich für das Theater interessieren. Dabei muss man nicht zwangsläufig Theaterschaffender, Journalist, oder Konsument von Theaterkritiken sein. Auch wer einfach mal gerne ins Theater geht und sich für ungewöhnliche Berufe interessiert, wird hier viel Interessantes erfahren.


Aufmachung des Buches
„Krise der Kritik?“ ist ein broschiertes Buch im gewohnten „Recherchen“-Format des Theater der Zeit-Verlages. Das Cover zeigt einen Zeitungsleser, der von einer Bühne aus auf den Zuschauerraum eines Theaters blickt. Das Alter des Mannes passt allerdings nicht wirklich zum typischen Leser von Theaterkritiken, haben wir doch in Boenischs Untersuchung erfahren, dass dieser im Schnitt über 50 Jahre alt ist. Im Buch selbst gibt es keine Bilder, allerdings eine Reihe von Tabellen (v.a. im Abschnitt über den Leser), die die Umfrageergebnisse aufgreifen.


Fazit
„Krise der Kritik?“ hat mir ein Thema nahegebracht, über das ich – obwohl selbst Theaterschaffende – zugegebenermaßen nur wenig wusste. Daher empfand ich die Lektüre von der ersten bis zur letzten  Seite als sehr bereichernd. Sehr zu empfehlen.



Hinweise
Rezension von Sigrid Grün
Herzlichen Dank an den Theater der Zeit-Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.


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