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Wie kann es angehen, dass ein Waldläufer, der sein
Leben lang einen Bart von einem halben Fuß Länge gehabt hat,
plötzlich beschließt, sich zu rasieren…?“
„…Könnte es sein, dass er mal gut aussehen will…?“
„Na, hör mal!“
„Für wen denn gut aussehen? Doch wohl kaum für Marie!“

Nicht nur ein Waldläufer rasiert sich für Marie, sondern gleich zwei, und als auch noch der Charleston in unserem kleinen Nest Einzug hält, geraten alle völlig außer Rand und Band. Ein neuer Bürgermeister soll Ordnung schaffen, aber aus den Wahlveranstaltungen werden jedes Mal Charleston-Partys…

In stimmungsvollen Bildern versetzen Régis Loisel („Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“, „Peter Pan“) und Jean-Louis Tripp den Leser in die kanadische Provinz der 1920er-Jahre und entfalten vor seinen Augen ein wildes Panoptikum voller skurriler und liebenswerter Charaktere.

 

Das Nest 7 

Originaltitel: Magasin Général – Charleston
Autor: Régis Loisel, Jean-Louis Tripp
Übersetzer: Marcel Le Comte
Illustration: Régis Loisel, Jean-Louis Tripp / Farben: Francois Lapierre
Verlag: Carlsen Comics
Erschienen: November 2012
ISBN: 978-3-551-76057-9
Seitenzahl: 84 Seiten
Altersgruppe: ab 14 Jahren


Die Grundidee der Handlung
Im Vorband bekam Gaetan von Marie und Jacinthe aus Montreal ein Grammophon geschenkt. Wer hätte geahnt, dass dieses neuartige Gerät mit seinen beschwingten Klängen nicht nur den geistig zurückgebliebenen Jungen, sondern die ganze Dorfgemeinschaft in helle Aufregung versetzt. Und noch andere Veränderungen machen sich seit Rückkehr der zwei Frauen vor allem bei den weiblichen Dorfbewohnern aus Notre Dame bemerkbar … Auch ein neuer Bürgermeister soll gewählt werden, was sich viel schwieriger darstellt als zunächst gedacht.

Es sind die altbekannten Gesichter und die gleiche liebgewonnene, leise Art des Erzählens, trotzdem fehlt zum ersten Mal der zündende Funke im Nest, der einen an die Geschichte fesselt. Hauptanteil hat sicherlich Maries drastische charakterliche Veränderung, die seit Montreal mit jedem Band deutlicher hervortritt und mit der ich mich nur schwer anfreunden kann. Doch auch der Handlungsverlauf zeigt Ermüdungserscheinungen. Irgendwie ist der Schwung raus, obwohl der Charleston die Füße beim Tanzen allseits hochfliegen lässt.


Beurteilung der Zeichnung / Textdarstellung
Die allgemeine Kolorierung passt sich der herbstlichen Stimmung in den Bildern an. Warme Erdfarben wie Beige und Braun, Gold und Ocker, Rost oder Petrol (Szenen bei Dunkelheit) leuchten einem angenehm entgegen. Ich finde es jedes Mal aufs Neue faszinierend, mit wie viel Liebe zum Detail die jeweilige Jahreszeit im ländlichen Bildhintergrund ausgestaltet ist. So befinden wir uns diesmal am Übergang vom Herbst in den Winter. Die Bäume sind schon überwiegend kahl, nur noch einzelne verfärbte Blätter hängen in den Zweigen, das Gras hat seine Üppigkeit und Leuchtkraft verloren, ebenso findet sich darin nichts Blühendes mehr. Die Menschen tragen dicke Wollkleidung und höhere Schnürschuhe, aber noch keine Schals, Mützen und Handschuhe, wie dies später im Winter der Fall wäre. Die letzten Bilder (ab Seite 82) deuten dann aber mit dem ersten Schnee endgültig die kalte Jahreszeit an.

In vielen Szenen ist zu beobachten, welch gravierende Veränderungen die Rückkehr der zwei Frauen aus Montreal bei den weiblichen Dorfbewohnern herbeiführt. Plötzlich taucht Eine um die Andere bei Philomena auf, um sich ebenso schicke, moderne Kleider wie die von Marie und Jacinthe schneidern, die Haare kurz schneiden oder von Alcide Stöckelschuhe anfertigen zu lassen. Plötzlich hat Marie sogar eine Doppelgängerin, die nur an ihrer dickeren Nase zu erkennen ist, was bei mir erst einmal für Verwirrung sorgte, bevor mir aufging, dass es sich hier nicht um Marie handelt. Die neue Eitelkeit der Frauen bringt auch eine ungeahnte Sinnlichkeit in die Bilder, denn die Männer lassen sich nur zu gern davon betören. Hier bedienen sich Loisel und Tripp wohlweislich einer stummen Bildsprache ohne ablenkenden Dialogtext, nur Maries verstorbener Mann funkt manchmal – wie gehabt – mit seinen Gedanken aus dem Off dazwischen, was aber nicht störend, sondern vielmehr erheiternd ist.

Wenn die neumodischen Klänge des Charleston allerorts aus dem Grammophon ertönen, flattern Notenschlüssel durch die Bildhintergründe. Weht die Musik aus der Ferne herbei, sind sie in ein geschwungenes Band oder eine Wolke eingefasst. An anderen Stellen füllen sie dicht an dicht den gesamten Hintergrund aus, z.B. beim Tanzabend. Gelungen finde ich auch einzelne Szenen, in denen die Dialoge noch zu vorherigen Bildern gehören und das unmittelbar Gezeigte ohne eigenen Dialog abläuft, z.B. auf den Seiten 60 und 63.


Aufmachung des Comics
Die Verarbeitung des gebundenen Comics ist insgesamt sehr gut, einziges Negativkriterium ist der gegenüber früheren Bänden scheinbar dünnere Glanzlack auf den Umschlagdeckeln, denn die Ecken und Kanten stoßen sich unheimlich schnell ab. Das gleiche Phänomen fiel mir auch bei den letzten Mangas mit Hochglanz-Einband auf.
Auf der Coverillustration sieht man in der Bildmitte Jacinthe und Gaetan mit hochhackigen roten Schuhen Charleston tanzen, dass der Staub nur so aufwirbelt, während die drei alten Klatschbasen im Hintergrund aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Vorn im Bild (leider sehr dunkel) lauscht das altbekannte tierische Trio mit neuem Zuwachs direkt unter der Grammophonmuschel andächtig den Klängen des Charleston.


Fazit
Während die stimmungsvollen Bilder wie gewohnt mit viel Liebe zum Detail und einfallsreichem Aufbau bestechen, schwächelt zum allerersten Mal der Handlungsverlauf. Eine kaum wieder zu erkennende Marie sorgte bei mir für Distanz, ebenso fehlt es der etwas müde wirkenden Erzählweise an Spritzigkeit und Biss.

 
3 5 Sterne


Hinweise
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Backlist:
Band 1: Marie
Band 2: Serge
Band 3: Die Männer
Band 4: Bekenntnisse
Band 5: Montreal
Band 6: Ernest

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