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„Es war eine weitere unsterbliche Melodie von Albert. Und doch war sie sterblich, denn mit ihm würde auch sie die Welt auf immer verlassen. Es war Alberts Todesmelodie, sein Requiem. Es war gut. Teuflisch gut.“ Albert Leblanc führt ein trostloses Leben als Koch in der verrauchten Dorfbeiz von Rechthalten. Ständig wird er vom Wirt erniedrigt und von betrunkenen Gästen verhöhnt. Anerkennung erhält er kaum. Die wenigen Freunde in seinem Alltag sind das Gitarrenspiel, der Absinth – und die Serviertochter Mona, die ihm als einzige etwas Sympathie entgegegenbringt.

In einsamen Momenten hängt er immer öfter morbiden Gedanken nach. Er beschließt, in vier Tagen all den Bosheiten ein Ende zu setzen. Albert macht sich an sein schauriges Werk ...

Ob sich heute in Rechthalten noch jemand an Albert Leblanc zu erinnern vermag? Wer seinerzeit regelmäßig in die Wirtschaft pilgerte, wird sich womöglich noch ein Bild seiner schmächtigen Gestalt machen können. Es würde allerdings nicht erstaunen, wenn er vollends in Vergessenheit geraten wäre. Dies ist seine so verwegene wie tragische Geschichte.

 

Flucht eines Toten 

Autor: David Bielmann
Verlag: WOA Verlag Zürich
Erschienen: 2011
ISBN: 978-3-9523657-2-4
Seitenzahl: 255 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Juni 1967: Albert Leblanc hat mit gerade mal Ende 20 genug vom Leben. Er arbeitet als Koch in einem Dorfwirtshaus und weder der Wirt noch die Gäste zollen ihm Respekt. Stets wird er Opfer von bösen Anspielungen, allein die Kellnerin Mona ist ihm wohlgesonnen. Seine einzigen Leidenschaften sind seine Gitarre und der Absinth. Dem trostlosen Dasein in Rechthalten – einer Gemeinde in der Westschweiz – möchte Albert nach Ablauf von 75 Stunden ein Ende setzen. Davor möchte er noch einige Dinge erledigen. Doch der Plan, sich das Leben zu nehmen, geht schief. Albert überlebt und muss flüchten – in ein neues Leben, in das er als „lebender Toter“ zunächst nur schwer einen Einstieg findet ...

David Bielmann greift hier ein interessantes Thema auf und arbeitet sehr gut heraus, wie es dazu kommen kann, dass ein Mensch für tot gehalten wird – es aber nicht ist. Und er zeigt auf, was für Folgen dies für einen Menschen hat. Mir hat die Geschichte sehr gut gefallen, denn Bielmann teilt das Buch in zwei Hälften: Das Leben vor dem Tod und das Leben nach dem Tod – beide Teile unterscheiden sich erheblich voneinander und sind absolut schlüssig.                     


Stil und Sprache
Das Buch ist aus der Perspektive eines beobachtenden Erzählers geschrieben, der Alberts Geschichte mitverfolgt. Bielmann gelingt es, im ersten Teil (Tod eines Lebenden) eine ungeheure Melancholie zu etablieren, die einen auch als Leser in den Strudel depressiver Gedanken hineinzieht. Die Sprache ist fast schon elegisch, voller Wehmut. Es ist faszinierend, wie sehr man mit dem Protagonisten mitfühlen kann. In jedem Satz hängen die Trauer und die Enttäuschung über den Gang der Dinge. Und dann – im zweiten Teil (Leben eines Toten) schlägt die Stimmung um. Es ist, als könnte man selbst mitverfolgen, wie Albert zum Leben erwacht.
Obwohl von vornherein feststeht, dass Albert Selbstmord begehen möchte - dies dann allerdings misslingt -, liest sich das Buch sehr spannend. Albert wird durch einige Geschehnisse in den Tagen vor seinem geplanten Suizid stark verunsichert. Soll er doch lieber am Leben bleiben? Wie wird er versuchen, sich das Leben zu nehmen? Was geht schief? Warum bemerkt eigentlich keiner, dass Albert überlebt hat? Und wie geht es weiter nach seinem angeblichen Tod? Diese und viele weitere Fragen stellt man sich während der Lektüre.

Mir hat der Schreibstil des Autors sehr gut gefallen – zunächst, weil er den Wechsel von der depressiven Stimmung im ersten Teil des Buches zum „belebteren“ Ton im zweiten Teil beeindruckend bewältigt (der Wendepunkt ist ganz klar herausgearbeitet), zudem schreibt der Autor sehr einfühlsam. Für Nicht-Schweizer sind die Helvetismen vielleicht etwas befremdlich (ich persönlich liebe die schweizer Ausdrücke!) - aber man muss auch bedenken, dass das Buch in einer anderen Zeit spielt. Würde man eine Geschichte lesen, die im Deutschland der 60er Jahre spielte, träfe man sicherlich auch auf einige ungewohnte Ausdrücke.

Sehr schön finde ich auch die Idee, jedem der kurzen Kapitel Gitarrenakkorde voranzustellen. So wird die Geschichte gleichzeitig zum Soundtrack von Alberts Leben. Die Auswahl der Gitarrenakkorde spiegeln auch den Gemütszustand des Protagonisten wider. Im ersten Teil dominieren klar moll-Akkorde.


Figuren
Alberts Nachname ist programmatisch: Leblanc. Spricht man den Namen nicht französisch, sondern deutsch aus, wird schnell klar, dass hier nicht mit Ende 20 Schluss sein kann. Das Schicksal des introvertierten jungen Mannes fesselt einen von Beginn an. Man erkennt bald, dass in ihm ein verkanntes Genie schlummert, eine Künstlerseele – auch von ihm selbst noch unentdeckt. Sein trauriges Leben hat ihn geprägt. In jungen Jahren verliert er den Vater und das Geschwisterchen – darüber verzweifelt die Mutter und landet in der Nervenheilanstalt. Vom Pflegevater wird er lediglich als Arbeitskraft betrachtet und vom Wirt des Dorfgasthauses ebenfalls nur geschunden. Nur der Absinth und seine Gitarre können den sensiblen jungen Mann trösten. Und Mona. Aber dafür ist es dann schon zu spät. Nach seinem angeblichen Tod muss Albert ein anderer werden – und wird Natan Natos – Natan (hebräisch: „Er [Gott] hat gegeben“) und thanatos (griechisch „Tod“) stecken hier drin, obwohl Albert/Natan erst nach seinem angeblichen Tod erst richtig zu leben beginnt. Als Leser nimmt man starken Anteil an Alberts Geschichte. Man fiebert mit, wenn er auf der Flucht ist, und wartet gespannt, wohin sein Weg ihn führen wird.

Auch Mona ist eine wichtige Figur. Sie fristet – wie Albert – ein freudloses Dasein. Verheiratet mit einem Rohling, arbeitet sie als Kellnerin im gleichen Dorfwirtshaus wie Albert. Dabei sehnt sie sich immer danach, auszubrechen. Sie träumt vom Süden, wo das Leben besser sein soll. Sie wirkt vor allem deshalb sehr sympathisch, weil sie sich nicht wie alle anderen auf das Opfer Albert stürzt, sondern ihm mit Respekt begegnet und ihm dies auch zeigt. Ihr widmet Albert auch zu Recht ein Lied, das für den Gang der Handlung eine wichtige Rolle spielt (und sie heißt nicht umsonst Mona – so wie die Besungene in „Mona (I need you baby)“ von den Stones ...

Die Dorfbewohner wirken teilweise ein bisschen fratzenhaft und sind auch so gedacht, denn hier bekommen all jene den Spiegel vorgehalten, die sich über andere Menschen lustig machen und die ihren Mitmenschen das Leben zur Hölle machen. Auch die Figuren, denen Albert im zweiten Teil begegnet, sind schlüssig herausgearbeitet. Die Jungs in Ascona, in deren Köpfen die Träume vom großen Coup hängen, die Aussteiger, denen Albert später begegnet – sie alle wirken authentisch und lebendig und bereichern das Buch.


Aufmachung des Buches
Das Buch kommt in Klappenbroschur. Auf dem Cover ist ein Baum zu sehen, dessen eine Hälfte belaubt und die andere Hälfte kahl ist – dazwischen sind die weißen Umrisse einer Gitarre eingezeichnet (dieses in den Boden gesteckte Instrument spielt auch eine wichtige Rolle im Buch und markiert einen bedeutenden Übergang). Das Cover in Schwarz, Weiß und Blau zeigt schon gleich, dass es bei dem Buch um ein eher düsteres Thema gehen wird. Deshalb finde ich es gut ausgewählt!


Fazit
Mir hat das Buch des jungen Autoren sehr gut gefallen. Die Geschichte des Albert Leblanc hat mich berührt und zum Nachdenken angeregt. Man sollte Menschen immer mit Respekt begegnen und sie nicht abwerten, um sich einen kleinen Spaß zu gönnen, wie es die zynischen Dorfbewohner tun. Für Liebhaber leiser Töne und wehmütiger Geschichten eine wunderbare Lektüre!


alt


Hinweise
Rezension von Sigrid Grün
Herzlichen Dank an den WOA-Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.


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