Smaller Default Larger

„Wenn ich Sex auf dem goldenen Himmelbett in Zimmer vier habe, starre ich verloren den orange-gelben Leuchtschlauch an. Ich fühle einen Körper auf mir – gut, wenn er nicht verschwitzt und klebrig ist. Schlecht, wenn er es doch ist. Ich schlinge meine verzweifelten Arme um einen Kunden, wenn ich ihn mag. Ich lasse meine Arme schlaff auf dem Bettlaken verweilen, wenn ich ihn nicht mag. Ein unbedeutendes Stöhnen an meinem Ohr, eine Wange ganz dicht an meiner. Wenn ich meinen Gast nett finde, ist es okay, wenn nicht, bin ich woanders. Den schlimmsten Sex kann man nur einmal haben. Und ich habe ihn längst hinter mir. Damals …“

 

Splitterfasernackt 

Autor: Lilly Lindner
Verlag: Droemer
Erschienen: 09/2011
ISBN: 978-3426226063
Seitenzahl: 400 Seiten

Hier geht's zur Leseprobe



Die Grundidee der Handlung
Ich habe mich lange gefragt, was ich zu diesem Buch schreiben soll. Ist es Fiktion oder Wirklichkeit? Roman oder Autobiographie? Was darin ist wahr, was vielleicht nicht? Ich fürchte, fast alles ist wahr … 

Lilly Lindner erzählt die Geschichte eines missbrauchten Kindes, ihre Geschichte. Mit sechs Jahren wird sie von einem Nachbarn vergewaltigt. Sie schweigt und will nichts lieber als ihr Leben beenden. Ihre Eltern wissen nicht, was mit ihr los ist, was sie tun oder lassen sollen, haben keine Worte für Lilly. Die schweigt weiter, hungert, erbricht sich, weist sich irgendwann selbst in ein Jugendheim ein, kehrt zu ihren Eltern zurück und entschließt sich mit 20 ihr Leben, das nicht enden will, selbst in die Hand zu nehmen. Sie beginnt, in einem Edelbordell zu arbeiten, findet dort überraschend eine Art Geborgenheit und kann doch ihrem Leben nicht entfliehen. Erst nach langer Zeit findet sie eine Möglichkeit, ihrer Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit Ausdruck zu verleihen: „Ich habe solchen Hunger.“ (S. 385).


Stil und Sprache
Lilly Lindner (die bestimmt ganz anders heißt) hat einen großen Teil ihres bisherigen Lebens mit Schreiben verbracht. Bereits während ihrer Zeit im Bordell „Passion“ entstanden unzählige Texte und Fragmente, mal mehr, mal weniger professionell. Und so ist auch ihr Buch zunächst etwas wirr, ungeschliffen im Ausdruck, und lückenhaft erzählt, und man muss sich durch die ersten 90 Seiten etwas durchquälen. Lilly erzählt stets in der Ich-Form über ihre Kindheit, ihre aggressiv-gleichgültigen Eltern und ihre verschiedenen Versuche, sich das Leben zu nehmen. Zu hungern, um irgendwann einfach zu verschwinden. Das ist bedrückend, aber noch nicht so außergewöhnlich.

Erst mit dem zweiten Teil („Zwischenspiel“) beginnt Lilly Lindner, ihren Gedanken und Gefühlen wortgewaltig Ausdruck zu verleihen. Fast hat man den Eindruck, jemand anderer habe jetzt übernommen, vielleicht Lillys innere "Freundinnen" Mia und Ana? Das ist manchmal schockierend, dann wiederum erschreckend belanglos und doch durchweg fesselnd. Ohne Tabus erzählt sie von ihren Kunden, ihren Kolleginnen im Bordell und den eigenen Versuchen, die Stimmen in ihr zum Verstummen zu bringen. Dabei verwendet sie eine klare, schnörkellose Sprache, die mit enormer Schärfe ein Bild von einer fast zerstörten jungen Frau zeichnet, die sich trotz aller Rückschläge am Ende für das Leben entscheidet. Letztlich berichtet sie dann irgendwann auch über den „fehlenden Tag“, der sie zu dem gemacht hat, was sie heute ist. Und damit erst erschließt sich dem Leser, wie unbegreiflich die Grausamkeit ist, die manche Menschen anderen zufügen können, lässt ihn sprachlos zurück und voller Bewunderung für eine Frau, die trotz allem niemals aufgibt.


Figuren
Ein schwieriges Thema, kreist dieses Buch doch fast ausschließlich um Lilly selbst. Sie kann sich selbst kaum beschreiben, hat eine völlig andere Wahrnehmung von sich als andere - und genau das ist es, was mich etwas stört. Mit manchmal unter vierzig Kilo Gewicht, blasser bis bläulicher Haut, ohne Brüste, stets frierend und ausgezehrt, findet sie sich immer noch zu dick, wird aber offenbar von ihren Kunden als anziehend empfunden. Beides will sich mir nicht recht erschließen, hat mir aber immerhin eine Idee davon gegeben, wie jemand sich fühlt, der magersüchtig ist. Ihr innerer Kampf ist authentisch dargestellt, das Ende nicht zu leicht erreicht, aber doch fehlt manchmal das gewisse Etwas, wirkt manches zu theatralisch und aufgesetzt.

Die anderen Personen, die vorkommen - ich nenne sie hier nicht Figuren, weil sie sicher auch zumindest teilweise der Realität entspringen - sind mit einem klugen Blick für das Wesentliche dargestellt. Mit wenigen treffenden Worten lässt die Autorin sie vor dem inneren Auge des Lesers entstehen, allerdings wundert man sich am Ende ein bisschen, wie vielen wirklich schrägen Gestalten die junge Frau in ihrem Leben bereits begegnet ist. Und doch gibt es neben manchen Situationen, die etwas „unecht“ wirken, immer wieder Begegnungen, die von so großer Intensität sind, dass sie einfach wahr sein müssen.


Aufmachung des Buches
Das großformatige Buch ist in Klappenbroschur ausgeführt und vollständig in Türkisblau gehalten. Autorenname und Titel befinden sich in weißer Schrift über einem Bild der Autorin. Innen gibt es vier Teile, die wiederum in nummerierte Kapitel unterteilt sind. Nach „Vorspiel“, „Zwischenspiel“, „Nachspiel“ und „Endspiel“ gibt es noch einen kurzen Epilog, der mit „Hauptspiel“ überschrieben ist - bezeichnend, wenn man seinen Inhalt kennt.


Fazit
„Splitterfasernackt“ ist alles andere als Unterhaltung - bedrückend, aufwühlend und nachdenklich machend. Dennoch fesselt es, unterhält manchmal sogar, ohne jemals banal zu sein. Muss man dieses Buch lesen? Ich weiß es nicht, kann aber nur dazu raten.


4 Sterne


Hinweise
Dieses Buch kaufen bei: amazon.dealt

Facebook-Seite

FB

Partnerprogramm

amazon

Mit einem Einkauf bei amazon über diesen Banner und die Links in unseren Rezensionen unterstützt du unsere Arbeit an der Leser-Welt. Vielen Dank dafür!

Für deinen Blog:

BlogLogo