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Lang war die Reise, lang wie die Reisen in Märchen. Gül hat Tage gebraucht, um nach Deutschland zu kommen, und sie weiß noch nicht, dass die Jahre wie Wasser dahin fließen werden, bis ihr Haus in der Türkei gebaut ist und sie zurückkehren kann. Bis dahin lernt sie alle Arten der Sehnsucht kennen: die nach ihren beiden Töchtern, nach ihrem Vater, dem Schmied, nach Düften und Farben und Früchten. Doch unmerklich wird die Heimstraße in diesem kalten, unverständlichen Land zu einer anderen Heimat. „Euer Leben wird in der Fremde vergehen“, warnt man sie. Aber die ganze Welt ist eine Fremde, wenn man nicht bei den Seinen ist. Geht es ihren Töchtern gut, ist Gül, als hätte das Leben keine Grenzen mehr. Wer ihre geduldige Zuversicht kennt, muss dem Stoßseufzer einer Freundin zustimmen: „Dank sei dem Herrn für dieses Herz, in dem alle Platz haben.“

 

 

Autor: Selim Özdogan
Verlag: Aufbau
Erschienen: 02/2011
ISBN: 9783351033378
Seitenzahl: 302 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Gül folgt ihrem Mann nach Deutschland, aus einem kleinen Dorf kommt sie nach Bremen, in ihren Augen eine riesige Großstadt. Ihre Kinder muss sie zurücklassen und ab sofort bestimmt Sehnsucht ihr Leben: nach einem Brief aus der Heimat, nach Gesellschaft, nach etwas zu tun für ihre Hände, nach Geborgenheit und Freundschaft. Das alles findet sie nur bedingt in dem ihr so fremden Land, das sie auch nach Jahren nicht versteht. Es folgen lange Jahre der Einsamkeit, irgendwann kehrt Gül zurück in die Türkei und ist auch hier auf einmal fremd.

Was genau ist Heimat? Kann Heimat auch woanders sein als dort, wo man geboren ist? Dieser Frage geht Selim Özdogan nach, er tut dies sehr detailliert und doch sensibel, mit dem Blick desjenigen, der unzählige solcher Leben gesehen hat, wie Gül es führt.


Stil und Sprache
Der Stil dieses Buches ist gewöhnungsbedürftig, sehr ruhig und verhalten schreibt Selim Özdogan seine Geschichte auf, verzichtet bei wörtlicher Rede auf Anführungszeichen, so dass man als Leser hineingesogen wird in die stille, oft sprachlose Welt von Gül. Man spürt ihre Einsamkeit aus jedem Wort, die Kargheit ihrer Wohnung, die Leere auf der Straße vor dem Haus, all das versteht Özdogan perfekt zu vermitteln. Dabei gelingt es ihm trotz einer Sicht „von außen“ auf das Leben in Deutschland, ohne negative Schilderungen auszukommen, stets bleibt er neutral, ebenso wie seine Protagonistin Gül, die viele Dinge einfach hinnimmt.
Andererseits erlaubt Güls stille Erzählweise aber auch einen klaren Blick auf ihre Traditionen, das Leben im Dorf, Ansichten und Meinungen. All das in manchmal fast poetisch anmutender Sprache, so dass man als Leser dabei bleibt, obwohl man schnell eine Ahnung hat, dass hier kein Happy End zurückbleiben wird, sondern höchstens etwas Hoffnung.


Figuren
Da ausschließlich Gül in der dritten Person erzählt, erhält man als Leser auch nur in ihre Gedanken- und Gefühlswelt Einblicke. Sehr ergeben nimmt sie hin, was das Leben ihr bietet, lässt sich aber nie unterkriegen, sondern versucht etwas zu machen aus dem, was sie hat. So ermöglicht sie zum Beispiel ihrer Tochter zweisame Stunden mit deren Freund, hinter dem Rücken von Fuat, ihrem Mann, von dem sie genau weiß, dass er das niemals dulden würde. Ohne dass sie viel tut, meint man, sie ein bisschen zu kennen, sie fast sogar zu verstehen, und doch bleibt sie immer distanziert und letztendlich eine Fremde, wo immer sie auch hinkommt.

Fuat hingegen, Güls Mann, nimmt sich vom Leben genau das, was er will. Aus beiden Kulturen sucht er sich aus, was ihm gefällt und wird so auch hin- und hergerissen, vielleicht sogar ohne es zu merken. Da er aber kaum redet und sich oft in sich selbst zurückzieht, hat nicht nur Gül keine Ahnung, was er wirklich denkt.

Die übrigen Personen sind Randfiguren, die anders als Gül selbst, keine Gedanken und Gefühle zeigen; mit sehr distanzierten Schilderungen erzeugt Selim Özdogan auch hier eine Distanz, die neben Gül auch den Leser zu erfassen scheint.


Aufmachung des Buches
Das gebundene Buch zeigt auf dem Cover eine halb geschälte Orange oder Mandarine, auf deren leuchtendem Orange der Titel in Schwarz hervorsticht. Innen gibt es drei Teile und ansonsten keine Kapiteleinteilung, am Ende findet sich eine Leseprobe aus Selim Özdogans „Die Tochter des Schmieds“.


Fazit
Kein leichtes Buch, den doch eher depressiven Grundton muss man erst einmal aushalten können. Wenn man aber dann Zugang zu Gül gefunden hat, entpuppt sich „Heimstraße 52“ als interessant und manchmal sogar poetisch, ein stiller Roman, der sicher seine Leser finden - und behalten - wird.


4 Sterne 


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