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Die dreiundachtzigjährige Charlotte erwartet Besuch: Hugo, ihren Schwager, für den sie Zeit ihres Lebens eine Schwäche hatte. Sollten sie doch noch einen romantischen Lebensabend miteinander verbringen können? Wird, was lange währt, endlich gut? Ingrid Nolls Heldin erzählt anrührend und tragikomisch zugleich von einer weitverzweigten Familie, die es in sich hat. Nicht zufällig ist Cora, die ihren Liebhaber einst in der Toskana unter den Terrazzofliesen verschwinden ließ, Charlottes Enkelin ...

 

  Autor: Ingrid Noll
Verlag: Diogenes Verlag
Erschienen: 1996, als Taschenbuch April 1998
ISBN: 978-3-257-23023-9
Seitenzahl: 245 Seiten  


Die Grundidee der Handlung
Charlotte, etwas über achtzig und recht unkonventionell, erwartet den Besuch ihres Schwagers Hugo. Sie engagiert ihren Enkel Felix und dessen Freunde, um ihre Wohnung wieder auf Vordermann zu bringen. Während die jungen Leute renovieren, erinnert sich Charlotte an die alten Zeiten. Manchmal unterhält sie sich dazu mit „Hulda“, einer Schaufensterpuppe, oder spricht mit sich selbst. Beim gemeinsamen Essen mit den Studenten kommt auch so einiges zur Sprache. Vor allem erinnert sie sich an Albert, ihren früh gestorbenen Bruder. Nach und nach entfaltet sich die Geschichte einer gutbürgerlichen Familie von den 20iger Jahren bis in die Gegenwart. Schließlich bricht der große Tag an, der lang Erwartete ist da! Unsicherheit auf beiden Seiten: Kann man an vergangene Zeit anknüpfen oder hat man sich so sehr entfremdet, dass man sich nichts mehr zu sagen weiß?
Und da Charlotte noch ein paar Leichen im Keller hat, davon eine ganz reale, ist für Überraschungen gesorgt. An dieser Stelle wird aus dem Familien- und Liebesroman ganz unvermittelt ein Krimi, wie könnte es bei Frau Noll auch anders sein?


Stil und Sprache
Die Ich-Erzählerin Charlotte erzählt mit viel Ironie und locker leicht, zuweilen lakonisch, von ihrem bewegten Leben, auch dem Liebesleben. Sie wahrt immer die Distanz zu den Ereignissen, nur einmal verliert sie sie, und zwar als sie davon berichtet, wie die Leiche in ihren Keller kam. In demselben abgeklärten Stil kommentiert sie auch ihr eigenes Verhalten in Vergangenheit und Gegenwart. Der für Frau Noll typische schwarze Humor kommt auch nicht zu kurz. Alles in allem stellen Stil und Sprache keine Herausforderung dar, aber das erwartet man ja auch nicht von einer Krimiautorin. Man liest und liest und ruckzuck ist wieder eine Stunde rum und noch immer möchte man das Buch nicht aus der Hand legen, dann Charlottes Leben ist gar zu spannend! Als allerdings ihre Enkelin Cora auftaucht, ist auf einmal die Luft raus. Charlotte wird irgendwie entmündigt, zum einen ganz praktisch, weil die taffe Cora die Regie übernimmt, zum anderen ändert Charlotte auch ihre Erzählweise, obwohl alles auf den ersten Blick unverändert erscheint, spürt man doch, dass etwas fehlt: Charlottes Lebendigkeit und Humor. Sie ist ganz unbemerkt eine „brave“ alte Frau geworden.


Figuren
Alle Figuren sind gut gezeichnet - die (noch) lebenden ebenso wie die längst verstorbenen. Manche werden uns ausführlicher vorgestellt als andere, aber das hängt davon ab, wie wichtig sie Charlotte waren oder sind. Am besten lernt man ihren verstorbenen Bruder Albert kennen, zu dem sie auch die intensivste Beziehung hatte. Charlotte ist eine Persönlichkeit! Gerade ihre Fehler und Schwächen machen sie so sympathisch. Irgendwie wünscht man ihr, dass sich ihre Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche, Hugo betreffend, noch erfüllen werden, trotz des fortgeschrittenen Alters der beiden. Allerdings ist Charlottes Verwandlung gegen Ende des Romans (ihren Rückfall in alte Rollenklischees, ihre plötzliche Passivität) nicht wirklich nachvollziehbar.


Aufmachung des Buches
Die mir vorliegende Taschenbuchausgabe zeigt auf der Vorderseite einen Ausschnitt des „Porträts einer Greisin“ entstanden um 1620. Die alte Frau blickt den Leser sehr eindringlich an, ja fixiert ihn geradezu. Die zurückhaltende Farbgebung des Gemäldes, im Verbund mit dem cremefarbenen Hintergrund, wirkt elegant, lässt aber auch ein wenig frösteln und passt so ausgezeichnet zum Titel des Buches „Kalt ist der Abendhauch“.


Fazit
Ein gut zu lesendes Buch, interessant, spannend, unterhaltend und vor allem mit viel schwarzem Humor ausgestattet. Charlotte ist eine hervorragende Erzählerin und man folgt ihr gern durch das letzte Jahrhundert. Wie und warum die Leiche in den Keller gekommen ist, erfährt man schon recht früh und dabei hätte man es auch belassen können. Aber Frau Noll verliert anscheinend nach ca. 200 Seiten das Interesse an ihrer Hauptdarstellerin und die Leiche im Keller muss unbedingt ans Tageslicht befördert werden. Richtig ärgerlich wird es, als Enkelin Cora, bekannt aus „Die Häupter meiner Lieben“, auftaucht und das Kommando übernimmt. Was jetzt folgt, ist der eigentlichen Erzählung regelrecht übergestülpt, wirkt so, als müsse die Autorin unbedingt ihrem Ruf als Krimi-Spezialistin gerecht werden. Es hätte ein wunderschöner Roman werden können, schade, dass diese Chance durch das unpassende Ende vertan wurde.


3 5 Sterne


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