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Marcus alias "w1n5t0n" ist 17, smart und begeisterter Gamer. Als Terroristen die Oakland Bay Bridge in San Francisco in die Luft sprengen, befinden er und seine Freunde sich zur falschen Zeit am falschen Ort. Agenten der Sicherheitsbehörde hatten sie verdächtigt und verschleppen sie auf eine geheime Insel, wo sie tagelang verhört, schikaniert und gedemütigt werden. Als Marcus freikommt, hat sich San Francisco in einen Überwachungsstaat verwandelt. Jeder Bürger – ein potentieller Terrorist; Menschenrechte – zweitrangig; Freiheit – ein "Sicherheitsrisiko".
Marcus und seine Freunde können nicht akzeptieren, was geschehen ist – und beschließen, sich zu wehren. Mit Hilfe subversiver neuer Medien organisieren sie sich zu einer "Gamer-Guerilla". Ihr Plan: Sabotage der staatlichen Überwachung. Ihre Waffen: die Zukunftstechnologien. Ihr Ziel: der Sturz der Regierung.

 

Little_Brother  Autor: Cory Doctorow
Verlag: Rowohlt Verlag
Erschienen: 03/2010
ISBN: 978-3-499-21550-6
Seitenzahl: 491 Seiten


Die Grundidee der Handlung
Marcus ist ein Computerfreak, Hacker und Rebell, der sich immer wieder über die völlig überzogenen Sicherheitsüberwachungen an seiner Schule hinwegsetzt – und er ist begeisterter ARG(Alternative Reality Game)-Spieler. Als er mit seinen Freunden für ein Spiel die Schule schwänzt, zerstören in San Francisco Terroristen eine Brücke und eine unterirdische U-Bahn-Strecke – tausende überleben den Anschlag nicht. Als Marcus bei den herbeieilenden Kräften Hilfe für seinen verletzten Freund holen möchte, werden sie verhaftet und kommen in ein geheimes Gefängnis. Und was sie dort erleben, zeigt ihnen, dass der Staat die Rechte der Bürger mit Füßen tritt. Nach Erniedrigungen und Folter kommen Marcus und zwei seiner Freunde schließlich frei – doch Darryl bleibt verschwunden.
In der Zwischenzeit hat die Heimatschutzbehörde die Gelegenheit genutzt, alle Bürger unter Generalverdacht zu stellen und San Francisco mit einem Netz völliger Überwachung zu überziehen, ein freies Leben ist nicht mehr möglich. Marcus – noch immer schockiert, was er in der Haft erleben musste – beschließt, sich gegen die Heimatschutzbehörde zu wehren, organisiert sich mit Gleichgesinnten und unterwandert die Sicherheitsvorkehrungen. Ein "Spiel" nimmt seinen Lauf, das bald gefährliche Züge annimmt ...


Stil und Sprache
Cory Doctorow stellt seinen Protagonisten zunächst in der Gegenwart vor und wechselt dann in die Vergangenheit. Dabei erzählt Marcus seine Erlebnisse aus der Ich-Perspektive und spricht den Leser immer wieder direkt an, was für eine große Nähe zum Charakter sorgt. Gleichzeitig erlebt man so die Gefühle von Marcus in ihrer reinsten Form, fiebert und leidet mit ihm. Er ist nicht nur Computerfreak und Hacker, sondern auch ein recht typischer Schüler, entsprechend ist seine Ausdrucksweise: auf Coolness gestylt, oft mit einer frechen Erwiderung auf den Lippen, zunächst kaum zu beeindrucken. Seine Sprachwahl ist recht stark an der Welt der Computer angelehnt, ohne aber den Leser vor Rätsel zu stellen, denn die komplette Denkweise, aber auch Abkürzungen wie ARG (Alternative Reality Game) oder LARP (Live Action Role Playing) werden im Text immer direkt und umfassend erläutert. Doctorow beschreibt Vorgänge ziemlich genau, teilweise bewusst so, dass man so einiges auch nachmachen kann, beispielsweise die Anruf-ID seines Handys zu fälschen. In einem späteren Abschnitt gibt er einen Crashkurs inkl. geschichtlichem Hintergrund über Kryptographie und erläutert es bildlich so, dass es auch Laien verstehen - auch wenn das Verfahren als solches kompliziert ist und Konzentration beim Lesen fordert. Trotzdem bindet er diese Passagen immer so pfiffig in den Text mit ein, dass sie einfach zum Gesamtkonzept gehören und den Leser nie langweilen; mit tollen Bildnissen lockert er das Ganze weiter auf.
Indem der Autor Google, Wikipedia, Microsoft (sowohl in einem positiven als auch negativen Bild) oder die Electronic Frontier Foundation (EFF) einbringt, also real existierenden Firmen und Plattformen, verleiht Doctorow seinem Roman eine zusätzliche Lebendigkeit. Im übrigen hat er eine einfache und doch nicht anspruchslose, eine offene, klare und emotionale Art zu beschreiben, was Marcus während der Haft passiert ist. In packenden Worten erzählt er über die Mittel, mit denen das Militär in seiner Arroganz und Gleichgültigkeit gegenüber den Häftlingen verfährt. Ein erschütternder Bericht, der hier zwar Fiktion ist, aber einem Leser, der durch die Medienberichterstattung auch von Guantanamo-Bay weiß, gar nicht lustig vorkommt.

Doctorow fackelt nicht lange, beschreibt nur den Storybeginn und legt bereits ab Seite 40 ein solches Tempo vor, dass die Zeilen zu verschwimmen und die Seiten dahinzufliegen scheinen. Danach lässt die Dynamik zwar zunächst wieder etwas nach, ohne dass aber die Spannung verloren ginge – zu unglaublich, zu fesselnd sind seine Schilderungen. Ein weiteres mal begegnet dem Leser dieser hochdynamische Stil, der einen mitreißt und die Augen förmlich nur über die Zeilen fliegen lässt, zu Beginn des 19. Kapitels. Wer jetzt jedoch glaubt, die Ereignisse zwischen diesen Passagen seien langweilig, nur weil sie etwas bedächtiger ablaufen, kennt Doctorow schlecht - der Roman liest sich zügig und flüssig, was durch die kurzen Abschnitte innerhalb der recht langen Kapitel noch unterstützt wird.
Der Autor versteht es, den westeuropäischen Lesern allein schon durch die in den amerikanischen Schulen anzutreffenden Sicherheitsvorkehrungen zu schocken, klingen sie doch so schräg, als ob sie nicht von dieser Welt seien – z.B. werden jedem Schüler bei der Einschulung Laptops (SchoolBooks) zur Verfügung gestellt, die vom Schulsystem bei jedem Tastenklick überwacht werden (können). Schüler werden per Handyortung, die Gänge der Schule per Kameras mit individueller Gangart-Erkennung überwacht (seit Kameras mit Gesichtserkennung durch die Rechtsprechung für unzulässig erklärt wurden). Und doch ist diese Methoden vermutlich längst Realität. Zwar ist auch dem deutschen Leser nicht unbekannt, dass die USA mittlerweile ein Überwachungsstaat par excellence ist, dennoch wird man immer wieder überrascht, ist gar erschüttert, wenn man hier nachliest, welche Ausmaße dies mittlerweile angenommen hat. Und wie das Ganze noch zu steigern ist, zeigt sich, als die Heimatschutzbehörde San Francisco einnimmt ... Ein Roman, der nachdenklich macht, ein Roman, der wichtig ist.


Figuren
Cory Doctorow erschafft seine Figuren mit Gefühl und Raffinesse, mit glaubhaften Stärken und Schwächen und Eigenschaften, die jede einzelne rundum realistisch werden lassen. Besonders zum Protagonisten entwickelt der Leser schnell eine Beziehung und schaut ihm direkt über die Schulter. Marcus ist intelligent, zunächst nur ein bisschen paranoid und technisch sehr begabt – aber dennoch ein völlig normaler Teenager im Computerzeitalter. Was ihm jedoch nach dem Terroranschlag widerfährt, spornt ihn an, sich gegen das Verhalten der Behörden und die Verletzung der Bürgerrechte zu widersetzen. Indem Doctorow immer wieder die Angst hervorholt, die Marcus seit seiner Verhaftung begleitet, steigert er nur seine Glaubwürdigkeit – Marcus ist kein furchtloser Superheld, sondern ein Mensch, der trotz seiner Ängste seinen Mut zusammennimmt, für seine Freiheit und gegen die totale Überwachung zu kämpfen.
Sehr gut haben mir auch die übrigen Charaktere gefallen, die einen in diesem Roman begleiten, allen voran Ange. Auch sie ist ein Computerfreak, taff und für ein junges Mädchen überraschend offensiv, aber ebenfalls glaubhaft. Sie steht Marcus zur Seite, ergänzt und unterstützt ihn und ist mit Feuereifer beim Widerstand dabei. Doch da ist noch mehr ... Gelungen auch das Portrait von "Ms. Zirkelschnitt", der leitenden Agentin der Heimatschutzbehörde. Ihr Auftreten ist arrogant, skrupellos und grausam. Dies erscheint zwar einseitig, aber genau so stellt man sich eine leitende Persönlichkeit des Militärs, das seine Macht für Folter und totale Überwachung missbraucht, vor.


Aufmachung des Buches
„Little Brother“ wird vom Rowohlt-Verlag als Taschenbuch aufgelegt. Die Verarbeitung des Buches ist hochwertig, nach dem ersten Lesen finden sich praktisch keine Spuren auf dem Buchrücken oder den Umschlagdeckeln. Das Cover wirkt mit der Anordnung der Elemente auf den ersten Blick schlicht, auf den zweiten Blick jedoch raffiniert gemacht. Zu sehen ist die Silhouette eines jugendlichen Mannes mit aufgegelten Haaren, in der Hand sein Handy. Hinter ihm findet sich ein großes, rotes X, beides wird überdeckt durch einen grünen Fingerabdruck, der sich bei genauerem Hinsehen aus Nullen und Einsen, also der ureigenen Computersprache, zusammensetzt. Die Schriftzüge des Autors und des Titels haben einen gesplitterten Look, darunter versetzt findet sich in grau der jeweils andere Schriftzug. Insgesamt eine Gestaltung, die mich anspricht.
Im Anschluss an den Roman wird das Buch durch Stellungnahmen von Bruce Schneier (Sicherheitsexperte) und Andrew "bunnie" Huang (Hacker der XBox) sowie einer Bibliographie von Doctorow, in der man weitergehendes Material zu diversen Themen findet, ergänzt.


Fazit
Cory Doctorow hat mit „Little Brother“ die Angst vor Terrorismus und das herablassende und aggressive Auftreten der amerikanischen Behörden – stellvertretend für viele andere Regierungen – in einen intelligent inszenierten Roman verpackt und führt an diesem Beispiel vor, wie Sicherheitstechnologien gegen das eigene Volk missbraucht werden (können). Mit diesem packenden und spannenden Thriller bietet er Unterhaltung, regt aber auch zum Nachdenken an. Eine klare Empfehlung!!


5 Sterne


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