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Die Grimmschen Kinder- und Hausmärchen entstanden wie andere große literarische Werke auch in einem langen Prozeß über mehrere Jahrzehnte und existieren in deutlich unterschiedlichen Fassungen. Neben der mit Recht am weitesten verbreiteten und umfangreichsten Fassung letzter Hand hat die hier nach der Handschrift edierte Urfassung, in der ein knapper Grundbestand von 63 Märchen noch ohne die künstlerische Ausgestaltung des romantischen Märchentons etwas unbehauen und rohdiamanten erscheint, eine herausragende Bedeutung.

 

  Autor: Brüder Grimm
Verlag: Reclam, Ditzingen
Erschienen:  5. Dezember 2007
ISBN: 978-3-15-018520-9
Seitenzahl: 144 Seiten


Stil und Sprache
Die In der handschriftlichen Urfassung erhaltenen Märchen sind sprachlich von sehr unterschiedlicher Qualität. Dies verwundert nicht, da die Brüder Grimm lediglich die ihnen erzählten Geschichten für Brentano gesammelt und oft nur skizzenhaft notiert haben. Eine Ausarbeitung sollte durch Brentano erfolgen. Auffällig ist dabei deren Kargheit. Einige Märchen sind auch arg fragmentarisch oder sehr “modern” im Ton, weil es sich um Extraktionen des Märchenhaften aus längeren Texten oder Romanen handelt. Einige Märchen versahen die Grimms gleich mit Querverweisen zu möglichen Quellen (Nr.29 “Herr Hände”). Mehrere Märchen, darunter “König Drosselbart” und “Marienkind”, sind bereits voll ausformuliert und der spezielle Grimmsche Erzählstil, wie wir ihn heute kennen, zeigt sich zwar schon, ist aber noch nicht zur vollen Entfaltung gelangt. Die Rechtschreibung folgt der der Brüder Grimm und ist etwas ungewöhnlich für uns heute, aber man gewöhnt sich rasch daran.


Umsetzung, Verständnis und Zielgruppe
Der Klappentext fasst das Wesentliche zusammen. Die Kinder- und Hausmärchen (KHM) erschienen mehrfach und immer in unterschiedlicher Ausführung der Texte. In diesem Buch findet der Leser die Urfassung, die noch die mündlichen Erzählungen wiedergibt, mehr oder weniger so, wie sie den Grimms berichtet wurden, ohne literarischen Schliff. Quasi die Ursuppe, aus der das große Werk der Brüder Grimm hervorging. Für mich war in erster Linie interessant, wie sich die Märchen im Laufe der Zeit, die sie bei den Grimms verbrachten, veränderten, bzw. ihre endgültige Form fanden, indem z.B. Märchenfragmente zu einem Text zusammengefügt wurden (u.a.bei den sogenannten “Dümmlingsmärchen").
Am Beispiel von Märchen Nr.43 “Schneeweißchen.Schneewittchen” möchte ich die  Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Urfassung zu späteren Überarbeitungen aufzeigen. Es handelt sich zudem um eines der wenigen ausformulierten Märchen, wobei allerdings der Schluss nur als Skizze wiedergegeben wird. Das Motiv “Weiß wie Schnee, Rot wie Blut und Schwarz wie Ebenholz” findet sich bereits. Die Mutter Schneewittchens äußert diesen Wunsch, der ihr auch erfüllt wird. Im Gegensatz zu der bekannten Fassung ist es hier noch die Mutter, die eifersüchtig auf die eigene Tochter wird und sie auch eigenhändig im Wald aussetzt. Bis zum Scheintod Schneewittchens breiten sich die bekannten Ereignisse bei den Zwergen vor dem Leser aus. Der Schluss unterscheidet sich völlig von späteren Versionen, denn hier ist es der Vater, der seine Tochter mit Hilfe seiner Leibärzte zurück ins Leben holt. Eine weitere Notiz schildert die Möglichkeit, dass es die Zwerge sind, die Schneewittchen wieder lebendig werden lassen. Der Schluss missfiel schon den Grimms: “dieser Schluß ist so nicht recht, u. mangelhaftig” (Anmerkungen S.129). Ein Prinz macht ja auch mehr her als Zwerge oder der eigene Vater. In der Urfassung wird auch noch ein anderer Anfang vermerkt, wo ein Graf sich eine solche Tochter wünscht und ein Kind mit diesem Aussehen adoptiert wird. Es folgt dann die bekannte Geschichte.
Wer also auf Spurensuche gehen möchte, findet hier reichhaltiges Material. Vielleicht geht es dem Leser dann auch so wie mir und er entdeckt, dass er z.B. den „König Drosselbart“ in der Urfassung den späteren Ausgaben vorzieht.

Erwähnt werden sollte noch, dass die Handschriften sich im Nachlass Brentano's fanden, und uns nur deshalb heute noch zugänglich sind, denn die Grimms selbst haben ihre Notizen aus dieser Zeit verbrannt.


Aufmachung des Buches
Wenn man sich an seine Schulzeit erinnert, dann fallen einem irgendwann auch die kleinen, gelben Reclam-Heftchen wieder ein. Muss ich da ein solches noch beschreiben? Ich glaube nicht. Die abgedruckten Märchen werden in vielfältiger Weise ergänzt, neben dem fast schon obligatorischen Vorwort gibt es ausführliche Anmerkungen, Hinweise zur Entstehung der Sammlung und eine Übersicht, wie sich die Nummerierungen der Märchen in den jeweiligen Ausgaben der KHM geändert haben, so dass Vergleiche gut möglich sind. Zwei Register geben noch einmal Aufschluss, welche Märchen hier zu finden sind und welche davon in die KHM-Ausgabe Letzter Hand von 1857 nicht mehr aufgenommen wurden.


Fazit
Dieses kleine Buch wird vermutlich nur wirkliche Märchenliebhaber interessieren, bietet es ihnen doch einen schönen Einblick in die Arbeit der Brüder Grimm.


5 Sterne


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