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Frau Lyne, herzlichen Dank, dass Sie zu einem Interview für die Leser-Welt bereit sind. Natürlich ist es immer eine der ersten Fragen, die uns Leser interessieren: Wie sind Sie überhaupt zum Schreiben gekommen und haben Sie ein Vorbild dem Sie folgen?

Die Antwort ist, fürchte ich, ein bisschen langweilig, weil Autoren sie immer geben. Sie stimmt aber … Ich habe schon immer geschrieben. Seit ich gelernt habe, wie man es technisch macht. Ich kann deshalb überhaupt nichts zu der interessanten Diskussion, warum man das eigentlich tut, beisteuern. Ich schreibe genauso lange, wie ich (zumindest ansatzweise …) denken kann, also hat sich mir die Frage nie gestellt.

Ein Vorbild kann ich nicht nennen, das wäre vermessen – was die Schriftsteller, die ich liebe und die mich ein Leben lang begleiten, konnten und können, bleibt für mich unerreicht (und das ist auch völlig in Ordnung so. Lesen ist mir wichtiger als Schreiben). Aber ich könnte etliche (Roman-)Schriftsteller nennen, an denen ich mich festhalte, wenn’s haarig wird, an denen ich lerne, auf dem Boden zu bleiben, und die mich nie vergessen lassen, was Romane können. Tschingis Aitmatow, Ernest Hemingway, Franz Kafka, John Steinbeck, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, John Updike, Thomas Mann, Fjodor Dostojewskij – hier unterbreche ich mich jetzt mal. Unter den Lebenden sind meine Lieblingsschriftsteller John Banville, Stewart O’Nan und Philip Roth.


Eine ihrer Interessen und Vorlieben gilt der Archäologie. Ist dies ein Grund, weshalb Sie ausgerechnet Romane vergangener Epochen schreiben oder wurde die Liebe zur Vergangenheit anders geweckt?

Ich wäre furchtbar gern Archäologe geworden – leide aber an Klaustrophobie und hätte mich für Grabungen somit kaum geeignet. Durch meine Recherche habe ich aber ständig Gelegenheit zur Arbeit mit Archäologen, zum Besuch von Grabungsstätten und zur Besichtigung von Fundstücken. Das ist der Teil, den ich am meisten liebe.
Die Liebe zur Vergangenheit – die bei mir ja in der Renaissance abrupt endet, ist aber – glaube ich – zuvor schon dagewesen und über die Sprache gekommen. Wie alles für mich. Die Texte, die ich am meisten liebe, die mir am wichtigsten geworden sind und auf die ich mich seit dem Studium konzentriere, stammen aus dem Mittelalter und der Renaissance. Außerdem beschäftige ich mich auch beruflich intensiv mit Kirchengeschichte und Bibelübersetzung. Das ist mein Lebensthema. Für mich als Übersetzer ist die Tyndale-Bibel ein unerreichter Gipfel. Den Weg, der bis dorthin geführt hat, habe ich immer erforschen wollen.
Ich denke: Wenn ich nicht weiß, woher ich komme, weiß ich auch nicht, wohin ich muss.
Die Beschäftigung mit dem Mittelalter lehrt mich Dinge, die ich so nicht kannte und auf die ich nicht mehr verzichten möchte. Demut zum Beispiel.


Auffallend in Ihren Büchern sind die penibel ausgearbeiteten und psychologisch sehr tiefgründigen Charaktere ihrer Figuren. Wie viel „Charlotte Lyne“ steckt in Ihren Figuren?

Wenig, denke ich. Zumindest wenig, das mir bewusst ist. Meine Interessen natürlich, zweifellos auch Fetzen meiner Weltsicht, selbst wenn man noch so verzweifelt bemüht ist, die in der Tasche zu lassen. Mir ist Familie sehr wichtig, also geht es in meinen Geschichten immer um Familien – und ich könnte mir nicht vorstellen, Geschichten über Menschen zu schreiben, die keine Kinder haben oder haben wollen. Und meine Todesangst ist in meinen Figuren, das ganz sicher. Davon abgesehen finde ich aber Schreiben über andere Menschen interessanter als Schreiben über mich. Mich kenne ich ja …


Ebenso wie Ihre Figuren, ist auch die Sprache in Ihren Büchern nicht alltäglich. Klar und authentisch, aber gehoben und niveauvoll verständlich. Wie findet man den eigenen Weg zu so einer Sprache und zu so einem Stil? Wie finden Sie Ihre Schauplätze, Figuren und Ereignisse für Ihre Erzählungen?

Geschichten erfinden kann ich nicht. Nur Geschichten finden. Im Laufe der Jahre habe ich ziemlich viele gefunden. Und beim Recherchieren für eine findet man immer wieder neue. Manche taugen, so wie sie sind. Andere müssen verschmolzen werden, um eine ganze romantaugliche Geschichte zu ergeben. Die Schauplätze, die die Geschichte erfordert, sehe ich mir dann nacheinander alle an. Wo nichts mehr zu sehen ist, muss ich mir mit Experten behelfen, die in Lokalterminen erklären, wie der Ort ausgesehen haben könnte. Beschreiben kann ich alle Orte aber erst, wenn sie in mir präsent sind.
Die Geschichten bekomme ich also geschenkt – die Arbeit, die für mich bleibt, ist ihnen eine angemessene Sprache zu finden. Wie man das macht – ach, das wüsste ich auch sehr gern, das ist für mich ein täglicher Kampf, bei dem ich manchmal den Schreibblock aus dem Fenster werfe. Um dann alle Blätter aus dem Garten sammeln zu müssen. Ich möchte, dass die Geschichte und die Figuren allein die Sprache, die sie brauchen, bestimmen. Das geht aber immer nur höchst partiell, denn das, was mir an Mitteln zur Verfügung steht, ist oft so begrenzt, dass ich das Gefühl habe, die Geschichte platzt mir aus meinen eigenen Nähten. Das auszuhalten, finde ich nicht immer leicht.


Bei manchen Autoren sagen Leser „Kennst du ein Buch, kennst du alle…“ Diese Aussage passt bei Ihnen überhaupt nicht. Ihre bisher erschienenen Romane sind zwar aus dem historischen Genre, aber so unterschiedlich, als hätten sie verschiedene Autoren geschrieben. Wie machen Sie das, dass die Handlungen mit unterschiedlichen Schauplätzen und Darstellern,  in eine jeweils zum Umfeld passendem Stil geschrieben sind?

Oh, vielen Dank. Wenn’s so ist, freut’s mich. Wie oben schon gesagt, ich finde es sehr schwierig und manchmal quälend, einer Geschichte eine angemessene Sprache zur Verfügung zu stellen. Oft genügt sie einfach nicht und die Geschichte stößt sich den Kopf an ihren Grenzen. Dann bin ich tagelang schwer ansprechbar und wünsche meiner Geschichte einen reicheren Autor.
Was mir sehr hilft, ist die intensive Beschäftigung mit Primärquellen. Weshalb ich keine Geschichte erzählen würde, deren Primärquellen ich nicht lesen kann. Ich mache das vor dem Schreiben für lange Zeit – bis ich glaube, einen Ton im Ohr zu haben, von dem ich glaube: so könnte die Epoche geklungen haben. Und während des Schreibens mache ich damit weiter, weil sich der Ton sonst so leicht verliert.


In Ihrem Roman „Das Haus Gottes“, wurde Ihr enormes fachliches Wissen über den damaligen Schiffbau sehr deutlich. Wie lange dauert so eine exakte Recherche? Wie und wo recherchieren Sie hauptsächlich?

Am liebsten vor Ort, mit Fachleuten und aus Primärquellen. Natürlich reicht das nicht aus. Fachbücher und –texte, Museen, Vorträge, auch filmische Dokumentationen, das ist alles unentbehrlich. Entbehren kann ich persönlich das Internet. Das ist keine Wertung – es eignet sich nur für mich nicht.
Eine Recherche von Null würde ich für mich nicht wagen – dazu bin ich zu alt, habe nicht noch einmal zwanzig Jahre Zeit. Daher brauche ich immer ein Thema, wo ich zumindest über einen schmalen Grundstock verfüge. Für die Recherche bis zur Romanplanung brauche ich ein Jahr. Und während des Schreibens muss die Recherche für mich immer aktiv bleiben – vor allem die sinnliche Recherche: Speisen nachkochen, Orte besuchen, Wassertemperaturen und Windstärken testen, Musik hören, Material befühlen etc., das muss ich während des Schreibens machen, damit die Geschichte mir nah bleibt.
Recherche ist für mich der schönste Teil, es ist der, in dem die Geschichte sich entblättert. Ich glaube aber, das ist nur für Leute geeignet, die sich ohnehin dafür begeistern, denn es kostet viel (Frei)Zeit – und die Familie muss mitziehen, sonst sieht man sie lange nicht.


Wie darf man sich Ihren Alltag vorstellen, wenn Sie an einem Buch arbeiten? Sie sind ja auch als Übersetzerin und Lektorin tätig und haben eine Familie. Wie bringen Sie dies alles in Einklang?

Ich habe Glück. Ich brauche wenig Schlaf und bin der geborene Morgenmensch. Als mein erstes Kind geboren war, habe ich mir angewöhnt, morgens zwischen vier und acht zu schreiben. Das mache ich heute noch. Zwischen vier und acht gehört meine Zeit ganz mir, da hat kein Kunde, kein Kind und kein Zeuge Jehovas Anspruch darauf. Das funktioniert sehr gut. Danach kümmere ich mich um meine Familie, die bis neun aus dem Haus ist – und dann gehe ich bis drei meiner Erwerbsarbeit nach. Bis mein Mann nach Hause kommt, gehört dann meine Zeit meinen Kindern und mir. Abends habe ich noch Zeit, das fertig zu machen, was ansteht – also entweder noch zu arbeiten oder an meinen Texten zu werkeln. Am Wochenende sind wir praktisch immer auf Recherche. Es ist unser gemeinsames Hobby. Das klappt gut so. Wir sind nicht sehr flexibel, sondern müssen unsere Zeit sehr genau einteilen. Aber es gefällt uns so.


Die Geschichten Ihrer Bücher spielen in ganz verschiedenen Epochen. Haben Sie eine Vorliebe für eine bestimmte Zeit oder spielt die Zeit keine Rolle, wenn das Thema passt?

Die Jahrhunderte Vierzehn bis Sechzehn, das sind meine, ohne Zweifel. Mich interessiert aber auch alles, was davor liegt. Und peinlicherweise nichts, das dahinter liegt – außer Jahrhundert Zwanzig.
Dass mein neues Buch in Jahrhundert Siebzehn spielt, ist eine Ausnahme, die sich nicht wiederholen wird. Ich habe die gemacht, weil ich diese eine Geschichte, die mir mein Schwiegervater vererbt hat, seit vielen Jahren liebe. Aber eine andere aus dieser Epoche könnte mich nicht reizen. Und dazu hätte ich auch nichts zu sagen, nichts zu erzählen, wüsste nicht, wo ich mit der Recherche ansetze und bräuchte wohl ein halbes Leben, um mich einzuwursteln.


Schreiben Sie schon an einem neuen Buch und wenn ja, können oder dürfen Sie schon verraten wo und in welcher Zeit dieses spielen wird? Vielleicht können Sie uns auch etwas darüber erzählen?

Mein neues Buch erscheint im Herbst, spielt im 17. Jahrhundert und nicht in England. Aber auch nicht allzu weit davon entfernt. In einem Land, das – trotz zahlloser anderer Vorzüge – eigenartigerweise vor allem für seine Männerbekleidung (die der unteren Körperhälfte) in der ganzen Welt berühmt ist.
Für das nächste recherchiere ich seit November. Es spielt an einem der schönsten Orte Englands (finde ich) und im 13. Jahrhundert, was mir sehr liegt. Die Geschichte ist eine von denen, bei denen ich mich frage, warum sie nicht längst erzählt worden sind.


Welche Romane und von welchen Autoren lesen Sie bevorzugt Bücher?

Tschingis Aitmatow, Ernest Hemingway, Franz Kafka, John Steinbeck, Heinrich Mann,  John Updike, Thomas Mann, Fjodor Dostojewskij, John Banville, Stewart O’Nan, Philip Roth, Ian McEwan, Antonio Tabucchi, Jose Saramago, Vikram Seth, Amos Os, David Grossman, Robert Schneider – und ganz bestimmt viele andere, für die es mir nachher wehtut, weil ich sie vergessen habe.

Im eigenen Genre: Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Umberto Eco, Dan Simmons, Iris Kammerer, Tilman Roehrig.


Gibt es etwas, was Sie Ihren Lesern mitteilen möchten?

Eigentlich nur mich bedanken. Das aber sehr gern und sehr laut.


Frau Lyne, ganz herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit für das Interview genommen haben! Für die Zukunft wünsche ich Ihnen alles Gute und viel Erfolg und ich freu mich auf Ihre neuen Bücher!

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