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"Wenn man als Psychiater und Psychotherapeut abends Nachrichten sieht, ist man regelmäßig irritiert. Da geht es um Kriegshetzer, Terroristen, Mörder, Wirtschaftskriminelle, eiskalte Buchhaltertypen und schamlose Egomanen - und niemand behandelt die. Ja, solche Figuren gelten sogar als völlig normal. Kommen mir dann die Menschen in den Sinn, mit denen ich mich den Tag über beschäftigt habe, rührende Demenzkranke, dünnhäutige Süchtige, hochsensible Schizophrene, erschütternd Depressive und mitreißende Maniker, dann beschleicht mich mitunter ein schlimmer Verdacht: Wir behandeln die Falschen! Unser Problem sind nicht die Verrückten, unser Problem sind die Normalen! Um diese kühne Behauptung zu belegen, reicht es aber nicht, sich mit den Merkwürdigkeiten der Normalen zu befassen, man muss die Verrückten kennen lernen. Aufklärung ist angesagt. Aufklärung über wahnsinnig Normale, ganz normale Wahnsinnige ... und das hier ist eine allgemeinverständliche Gebrauchsanweisung für außergewöhnliche Menschen, und solche, die es werden wollen."

 

  Autor: Manfred Lütz
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
Erschienen: 2009
ISBN: 978-3-579-06879-4
Seitenzahl: 185 Seiten


Stil und Sprache
Das Buch von Manfred Lütz ist ein hervorragendes Beispiel dafür, ein Sachthema in einfache und prägnante Sätze zu kleiden. Humorvoll widmet sich der Autor einem ernsten Thema, den psychisch Kranken in unserer Gesellschaft. Sein humorvoller, fast kabarettistischer Grundton führt dazu, dass es sich bei dem Buch nicht um ein langweiliges Kompendium psychischer Krankheitsdiagnosen und deren Behandlung handelt, sondern um eine vergnügliche Reise in die Welt der "Irren" mit ihren Nöten und Gefühlen. Der Psychiater, Psychotherapeut und Theologe Lütz hat das Manuskript von mehreren Kollegen gegenlesen lassen - und von seinem Metzger. Letzterer hat dem Autor das grüne Licht hinsichtlich der Verständlichkeit des Textes gegeben. Immerhin erhebt das Buch den Anspruch, auf seinen 185 Seiten auf die meisten bekannten psychischen Krankheiten und Phänomene einzugehen und eine große Auswahl an möglichen Behandlungsmethoden zu erklären. Dieses sprachlich überaus schwierige Unterfangen hat der Rheinländer Lütz hervorragend umgesetzt. Unverständliche Passagen fehlen ebenso wie die Aneinanderreihung von unverständlichem Fachjargon.


Umsetzung, Verständnis und Zielgruppe
Die zuvor erwähnte klare und einfache Sprache, sowie die damit erreichte hohe Verständlichkeit des Textes, eröffnen diesem Buch eine größtmögliche Zielgruppe. Grundsätzlich kann jeder dieses Buch lesen. Vorkenntnisse im Bereich der Psychologie sind nicht notwendig, es setzt auch keine übermäßige Bildung voraus. Zur Zielgruppe dieses Buches würde ich daher alle Leserinnen und Leser zählen, die sich einen Einblick in die Welt der psychischen Krankheiten und deren Behandlung machen wollen, sich also für Fragen aus dem Wissensbereich der Psychiatrie interessieren. Ob es für Fachleute eine anregende Lektüre darstellt, wage ich schon aufgrund des kritischen Vorwortes von Dr. Eckart von Hirschhausen zu bezweifeln. Und auch der Autor selbst räumt in seinem Nachwort ein, dass es sich natürlich um eine Abhandlung handelt, die im Einzelnen nur an der Oberfläche kratzen kann. Ein profundes wissenschaftliches Nachschlagewerk hatte Lütz auch gar nicht schreiben wollen, sondern ein Buch für den interessierten "Ottonormalverbraucher". Dies ist Lütz auf jeden Fall gelungen.

Die Umsetzung dieses Konzeptes kommt anhand der übersichtlichen Gliederung des Buches, der einprägsamen und Neugier weckenden Überschriften, sowie des ausführlichen Sachverzeichnisses ebenfalls gelungen daher.
Nach Vorwort, Vorspiel und Einführung versucht Lütz zunächst seine These zu stützen, dass die Normalen das eigentliche Problem der Gesellschaft seien. Dies veranlasst ihn zu einem Wortspiel, in dem er folgende Fallgruppen bzw. Phänomene der Normalen unterscheidet: "der ganz normale Wahnsinn, der wahnsinnig Normale, der ganz normale Blödsinn und der blödsinnig Normale". In diesem Teil A des Buches wagt sich Lütz an eine Gesellschaftskritik, die schonungslos offen mit den Phänomenen aufräumt, die in unseren Massenmedien tagtäglich dargestellt werden oder auch in der Geschichte stattgefunden haben. Dass Hitler verrückt gewesen sei, wird bestritten - und damit die volle Zurechnungsfähigkeit seiner Gräuel bestätigt. Das Phänomen der spießigen Masse der Bevölkerung und der einhergehenden Diskriminierung aller Andersartigen wird ebenso verurteilt wie der Blödsinn, der Dieter Bohlen und Konsorten täglich über die Lippen kommt.
Anschließend an diese Gesellschaftskritik erklärt Lütz, wann eine Behandlung Sinn macht und deshalb sinnvollerweise überhaupt nur vorgenommen werden soll. Nämlich nur dann, wenn der Patient unter der psychischen Beeinträchtigung leidet oder seine Umwelt und die Gesellschaft. Alle anderen Auffälligkeiten seien nicht behandlungswürdig, sondern nur ein Zeichen dafür, dass Auffälligkeiten und Merkwürdigkeiten Menschen zu Eigen sind. Ohnehin ist nach seiner Meinung jeder mit der einen oder anderen Macke gesegnet. In diesem Kapitel deckt der Autor auch einige Irrtümer der Psychiatrie auf, frei nach dem Motto, "gut gemeint ist noch nicht gut gemacht". Besonderes Augenmerk legt Lütz darauf, dass jede Therapie unter allen Umständen die Menschenwürde des Kranken zu wahren habe. Der Kranke solle vielmehr mit seinen eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten in die Lage versetzt werden, sich selbst zu heilen. Das sei die Aufgabe des Psychiaters oder Psychotherapeuten. Im Folgenden nimmt Lütz eine Auswahl von Therapiemöglichkeiten ins Auge, wie die Psychoanalyse, die Verhaltenstherapie sowie systemische Therapien, die das Umfeld der Kranken bewusst mit einbeziehen. Am Ende dieses Teils, versucht Lütz das Vorurteil auszuräumen, dass eine Medikation von psychisch Kranken immer zu Abhängigkeit und "Ruhigstellen" führen muss. Vielmehr betont er, dass eine vernünftige Medikation bei einigen Krankheitsbildern, wie der schweren Depression, hervorragende Heilungschancen eröffnet.
Daran schließt sich Lütz "heitere Seelenkunde" an, eine Sammlung aller psychischen Krankheiten, Störungen, Phänomene, Psychosen und deren Therapiemöglichkeiten. Durch die vielen Beispiele und teilweise sehr lustigen Anekdoten seiner Patienten ist dieser Teil tatsächlich herrlich kurzweilig. Die Krankheitsbilder am Beispiel erläutert sind nicht mehr dröge Diagnosen sondern zeigen, worunter ein so Erkrankter leidet und bezieht auch die Angehörigen mit ein, die teilweise ein ebenso großes Leid tragen müssen, wie die Erkrankten selbst. Augenzwinkernd berichtet Lütz von seinen Patienten, den "rührenden Demenzkranken, dünnhäutigen Süchtigen, hochsensiblen Schizophrenen, erschütternd Depressiven und mitreißenden Manikern, für die er so viel Sympathie aufbietet.


Aufmachung des Buches
Das Buch ist bereits in zweiter Auflage in gebundener Form erschienen. Auf den ersten Blick kommt es wie ein typischer neumodischer Ratgeber daher. Optisch würde ich es eher in die Sparte "erfolgreiches Managen" einordnen, so dass mich die Gestaltung des Covers eher nicht zum Kauf überredet hätte. Der Titel "Irre! wir behandeln die Falschen" ist in rot aufgedruckt, wobei das Wort "Irre" fast ein Drittel des weißen Einbandes einnimmt. Der Untertitel "Unser Problem sind die Normalen" ist ebenso in schwarz gedruckt wie der Name des Autors.


Fazit
Dieses Buch ist herrlich humorvoll, leicht verständlich, ein Sachbuch, das Lust auf eine so komplexe Wissenschaft wie die Psychologie macht. Ich habe dieses Buch unheimlich genossen und mir inständig gewünscht, nicht "Normal" im Sinne von Lütz zu sein.
Dieses Buch räumt mit den Vorurteilen gegenüber der Psychiatrie und deren Insassen auf und mahnt uns, zu einem aufgeklärten und nicht diskriminierenden Umgang mit psychisch Kranken. Gespickt mit Zitaten aus der Welt der Psyche, Lütz‘ rheinischem Humor sowie richtig guten Sätzen ist diese Buch - IRRE GUT!
Volle Punktzahl für Manfred Lütz‘ "heitere Seelenkunde".


5 Sterne


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