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Benjamins Finger rasten über die Tastatur seines Laptops, als müssten sie einen Rekord in getippten Zeichen pro Sekunde aufstellen. Er konnte es nicht beeinflussen - die Worte sprudelten aus seinem Gehirn, strömten durch seine Arme und nötigten seine Hände, eine Buchstabensalve nach der anderen auf das Manuskript seines Fachbuches mit dem Titel ‚Jesus Christus‘ abzufeuern. Nur mit Mühe hatte er den Verlag von der Schlagkraft des Namens überzeugen und den Zusatz ‚Alles Lüge‘ abwenden können. Aus einem einfachen Grund: Es war nicht alles Lüge. Viele Dinge, die über den Menschen Jesus Christus überliefert worden waren, stimmten. Aber zu Benjamins Verwunderung hatte noch niemand genau hingesehen und eins und eins zusammengezählt. Es stand klar und deutlich geschrieben. Aber offenbar weigerte sich die Menschheit, das Offensichtliche als wahr anzuerkennen.
Die Kerzenflammen in seinem Schreibzimmer flackerten. Er mochte dieses warme Licht, den Geruch des Wachses, die Harmonie, die von den zwanzig Kerzen ausging. Er zündete sie täglich an, sobald er an seinen Büchern arbeitete. Sie versetzten seinen Geist in frühere Epochen, und er fühlte sich wie die Gelehrten, die nachts an ihren Dokumenten schrieben, im Kerzenschein, oft unter Lebensgefahr, weil die Wahrheit ihnen mehr bedeutete, als ein verlogenes Leben in Knechtschaft.
Die Wahrheit. Gab es sie? Wer entschied, ob etwas Wahrheit oder Lüge war? Und was, wenn die Lüge den Menschen wichtiger war, als eine Wahrheit, die ihnen den letzten Glauben, den letzten Trost, den letzten Halt raubte?
Seine Finger stoppten die Buchstabenflut, als wollten sie die Antwort auf diese Frage abwarten. Benjamin blickte zu den überfüllten Bücherregalen. Dann stand er auf und ging zum Fenster. Tiefgraue Wolken schoben sich von den Bergen über das Firmament, begleitet von einem Grollen, als würden die Wolkentürme den wuchtigen Fels des Gebirges zur Seite rücken. Nicht zum ersten Mal beschlich ihn das Gefühl, Gott würde es nicht zulassen, dass Benjamin die Wahrheit preisgab. Doch dann beruhigte er sich mit dem Gedanken, dass es genau dieser Gott war, der all das in die Wege geleitet hatte. Damals, als er auf diesen Schamanen traf. Einen alten Cherokee, der ihn auf offener Straße ansprach, und ihm sagte, er wüsste, wonach er suchte. Zuerst dachte Benjamin, dass dieser offenbar blinde Indianer nur ein paar Dollar erbetteln wollte, um sich in der nächsten Bar seinen täglichen Schnaps zu kaufen. Doch der Ausdruck der dunkelbraunen Augen faszinierte ihn auf eine nicht erklärbare Art. Sie wanderten unkontrolliert nach links und rechts und vermittelten dem Betrachter den Eindruck, dieser Mann befände sich in einem Trancezustand.
»Wonach ich suche?«, fragte er den Indianer. Der nickte, wandte sich um und entfernte sich mit unwiderrufbarer Bestimmtheit.
»Was suche ich denn?«, rief er ihm nach und folgte dem alten Mann, der mit erstaunlicher Sicherheit und Geschwindigkeit durch die Menschenmenge steuerte.
»Die Wahrheit«, antwortete er knapp.
»Suchen wir nicht alle nach der Wahrheit?«
»Manche suchen sie. Manche finden sie. Manche verleugnen sie.«
Benjamin ging neben dem Schamanen her und erhielt nichts als ein Lächeln auf all die Versuche, herauszufinden, von welcher Wahrheit dieser Mann gesprochen hatte.
Sie erreichten einen schäbigen Wohnwagen, der am Stadtrand abgestellt war. Der Indianer bat ihn herein und setzte sich auf den Blechboden. Er wies neben sich und nickte. Dann sprach er in einer fremdartigen Sprache. Ein Wort tauchte in den unverständlichen Sätzen wiederholt auf. Goweli. Es bedeutete ‚Buch‘ und nach Aussagen des Schamanen befand sich in diesem Buch eine Geschichte, die der Menschheit die Wahrheit offenbarte. Über ihre Herkunft, über die Geheimnisse dieser Welt, des Universums - und Gott.
»Wo finde ich Goweli?«, hatte Benjamin gefragt.
»Goweli ist überall. Du musst nur die Augen schließen, um zu sehen.«
»Ich verstehe nicht. Was meinen Sie damit?«
»Suche das Buch. Lies es. Erkenne die Wahrheit. Erkenne den göttlichen Gedanken in ihm. Lies das, was geschrieben steht und nicht das, was du glaubst, dass geschrieben steht. Dann wirst du Goweli finden.«
Als Benjamin den Indianer am nächsten Tag besuchen wollte, war der Wohnwagen verschwunden. Niemand hatte den Indianer bemerkt. Jack Barrel, der in unmittelbarer Nähe wohnte, behauptete mit glaubwürdiger Überzeugung, dass an diesem Ort kein Wohnwagen gestanden hatte und er sich gewundert hätte, warum Benjamin den ganzen Nachmittag bis spät in die Nacht alleine in der Wiese gesessen und offenbar Selbstgespräche geführt hatte.
Später schien ihm die Begegnung mit dem Indianer wie ein Traum, der langsam verblasste. Aber ein Wort hatte sich in seinen Geist eingebrannt. Er schrieb es auf die erste Seite seines Notizbuches, unterstrich es, rahmte es farbig ein und starrte stundenlang auf die Buchstaben. WAHRHEIT. Die Suche hatte begonnen.
Der alte Indianer hatte von einem Buch gesprochen, das ihm den Weg zu diesem Goweli weisen würde. Er nannte es einfach nur ‚das Buch‘. Lange dachte Benjamin nach, welches Buch der Indianer meinen konnte, bis zu jenem Tag, als sein Blick auf die Bibel fiel. Das Buch der Bücher. Meinte der Indianer dieses Buch? Benjamin kannte den Inhalt der Bibel und zweifelte, darin irgendeine Form der Wahrheit zu finden. Er wusste, dass die römisch-katholische Kirche aus einer Menge von Überlieferungen jene Texte ausgewählt hatte, die am besten in ihre Version der Wahrheit passten. Würde er in dieser Sammlung von Halbwahrheiten einen Weg zu Goweli finden? Doch dann lernte er etwas, das er bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte: den Glauben. Er vertraute dem Indianer. Er vertraute darauf, dass er in der Bibel den Weg fand. Einen Hinweis auf die Wahrheit. Er begann Zeile für Zeile zu studieren. Doch er fand nichts.
Dennoch keimte in ihm eine Faszination. Jesus Christus hatte sich in seinen Geist geschlichen und riss jeden seiner Gedanken an sich. Wer war dieser Mann? War er tatsächlich der Sohn Gottes, der all die Wunder vollbrachte, der für die Menschheit am Kreuz starb und am dritten Tage auferstand? Oder handelte es sich nur um einen Menschen, der eine enorme Ausstrahlung auf seine Landsleute ausübte, ein neues, revolutionäres Gedankengut verbreitete, das den Glaubensträgern der damaligen Zeit ein giftiger Dorn im Auge war. Waren all diese Wunder und die Auferstehungsgeschichte nur die Heroisierung eines Märtyrers, der für seine Überzeugung und seine Ideen sein Leben opferte. Oder befand sich mehr dahinter?



Erst einige Monate später entdeckte er die erste Spur. Jesus Christus war in der Bibel derart strahlend dargestellt, dass der Hinweis im Schatten des Gottessohnes beinahe unsichtbar war. Doch schließlich glitzerte er wie ein Diamant in einem Haufen von Glasscherben.
Er studierte die Originaltexte und übersetzte sie. Mehr und mehr erhielt er die Bestätigung für seine Theorie, die die Grundfesten des christlichen Glaubens erschüttern würde.
Letztlich untersuchte er das Turiner Grabtuch, durfte mit Hilfe von renommierten Wissenschaftlern Proben des Genmaterials auf dem Leinen nehmen und auswerten. Die Ergebnisse befanden sich auf der Festplatte seines Laptops.
Begonnen hatte es mit einer zufälligen Begegnung, die scheinbar ausschließlich in seinen Gedanken stattgefunden hatte. Es folgte eine Idee. Aus der Idee wurde eine These - aus der These eine Theorie. Und seit dem heutigen Morgen besaß er den Beweis. Seine Schlussfolgerung war Fakt und würde die Welt aus den Angeln heben.
Ein Sonnenstrahl kämpfte sich durch die schwarze Wolkenbank und wirkte wie ein blutroter Speer, der auf die Erde niederfuhr. Ein Windstoß fuhr durch die Bäume, drückte die Wipfel zu Boden, als erzwänge der Sturm eine ehrfürchtige Verneigung vor der dunklen Gewalt, die mit ansteigendem Getöse näher kam. Benjamin begann zu frieren und schloss das Fenster.
»Tolles Schauspiel, Benni. Nicht wahr?«
Die tiefe Männerstimme stach wie ein Schwert in seinen Rücken. Ein greller Blitz zuckte durch das stürmische Schwarz. Donner brüllte und Benjamin spürte Unbehagen in seinem Körper aufsteigen. Es füllte ihn mehr und mehr aus, mit jedem Zentimeter, den er sich zur Raummitte umwandte.
Der Mann saß auf dem Bürostuhl, die Füße auf dem Schreibtisch, eine Manuskriptseite in seinen Fingern, welche er mit offensichtlich gespieltem Interesse las. Sein Haar war dunkel, beinahe schwarz. Dichte Augenbrauen und ein eleganter Dreitagebart zierten sein Gesicht. Er trug einen teuren dunklen Anzug und wirkte, als wäre er direkt von einer Beerdigung in sein Büro gebeamt worden.
Benjamin versuchte, die Herrschaft über seinen Verstand zurückzugewinnen. Millionen Fragen rasten in sein Bewusstsein, das ihm klarmachen wollte, dass dieser Mann nicht in dem Zimmer sein konnte. Er hätte es merken müssen, wenn er die Tür geöffnet hätte, er durch den Raum spaziert wäre, sich auf den Stuhl gesetzt hätte. Und doch befand er sich in kaum einem Meter Entfernung und grinste ihn an, als wäre ihm gerade der Scherz des Jahrhunderts gelungen.
»Was ... wie ... was ...?«, stammelte Benjamin und versuchte einen vernünftigen Gedanken zu fassen.
»Warum stammeln die Leute immer, wenn sie mich sehen? Sehe ich so furchtbar aus?«, fragte der Mann, griff nach einer CD-Rom und betrachtete sich in der spiegelnden Rückseite, schüttelte dann den Kopf und legte die CD wieder auf die Tischplatte zurück. »Nein. Sieht doch prächtig aus, der Bursche«, sagte er und ließ seine Zähne in einem breiten Grinsen aufblitzen.
»Wer sind Sie?«, fragte Benjamin und lehnte sich gegen die Wand. Eisige Kälte schien von dem Mann auszugehen. Mehr und mehr lähmte sie ihn.
»Ach, komm schon! Benni! Ein wenig Fantasie hätte ich schon von dir erwartet. Weißt du es wirklich nicht? Oder willst du mich einfach nur verarschen. Na?«
»Der Teufel?«
»Ha! Ich lach mich tot! Sehe ich wirklich so aus?« Wieder griff er nach der CD und hielt sie vor sein Gesicht. »Nein. Keine Hörner, keine Fratze und so weit ich weiß, humple ich auch nicht mit einem Pferdefuß durch die Gegend. Abgesehen davon wissen wir doch beide, dass dieses Weichei von Satan eine Erfindung der Kirche ist. Egal. Meine Zeit drängt.« Er seufzte. »Eigentlich wollte ich mir nur den Mann ansehen, der die Wahrheit herausgefunden hat. Schon witzig, oder? Steht doch alles in dieser bescheuerten Bibel und du bist der Erste, der es kapiert hat. Gute Arbeit, kleiner Benjamin. Wirklich gute Arbeit.« Der Mann stand auf und ging zur Tür. »Leider wird das aber unser kleines Geheimnis bleiben.« Er zwinkerte und griff nach der Türschnalle.
Benjamin holte tief Luft. »Der Verlag hat das Manuskript. Es wird veröffentlicht werden und dann weiß es die ganze Welt.«
»Papperlapapp!«, rief der Mann ohne sich umzudrehen. »Zwei Dinge, Benni, sind es, die sich im Laufe der letzten Jahrtausende nicht verändert haben. Der Sex und die Lüge. Glaub mir, mein Kleiner. Ich erkenne sofort, wenn jemand lügt. Und du hast jetzt definitiv gelogen.« Er hob seine Hand zum Gruß und verließ den Raum.
Benjamin rutschte an der Wand zu Boden. Er hatte Mühe, Luft in seine Lungen zu quetschen, konnte sich nicht bewegen, spürte seinen Körper nicht und musste hilflos zusehen, wie die Kerzenflammen zu wild lodernden Feuerzungen wuchsen, die gierig nach den Büchern in den Regalen leckten. Er fühlte die Hitze, die von dem Feuer ausging. Es breitete sich schnell auf das gesamte Zimmer aus, umkreiste ihn wie ein hungriges Raubtier, kurz bevor es zubiss.
Benjamin blickte auf den Laptop. Die Welt würde die Wahrheit nicht erfahren. Die Zeit war noch nicht reif. Eine Zeile war auf dem Monitor markiert. Von Benjamins Position am Boden waren die Buchstaben deutlich zu erkennen. Es wirkte wie ein zynischer Scherz, mit dem Benjamin in den Tod ging. Wieder und wieder las er die Worte, bis er schließlich das Bewusstsein verlor. Die Wahrheit starb mit ihm. Drei Worte, die weiterhin unentdeckt bleiben würden. Vorerst. Sie lauteten: JESUS CHRISTUS LEBT.


Anmerkungen:
23. Aug. 2009 


Veröffentlichung auf www.leser-welt.de mit freundlicher Genehmigung von LITERRA.

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