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Wer nur einen flüchtigen Blick auf das Dorf in Brandenburg wirft, ist bezaubert von den altertümlichen Namen der Nachbargemeinden, von den schrulligen Originalen, die den Ort nach der Wende prägen, von der unberührten Natur mit den seltenen Vogelarten. Doch hinter den Fassaden der kleinen Häuser brechen alte Streitigkeiten wieder auf. Und obwohl niemand etwas Böses will, geschieht Schreckliches.

 

Unter Leuten 


Autor: Juli Zeh
Verlag:  btb Verlag
Erschienen:  September 2017
ISBN: 978-3442715732
Seitenzahl: 656 Seiten

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Die Grundidee der Handlung
Wie bringt man Windräder, Alteingesessene, Zugezogene und Heimkehrer friedlich zusammen? Nicht nur dieser Frage geht Juli Zeh in ihrem großen Gesellschaftsroman nach. „Unterleuten“ ist auch ein Musterbeispiel für irrationales menschliches Verhalten, wenn es darum geht, eigene Interessen durchzusetzen.

Von außen betrachtet ist Unterleuten ein beschauliches Dorf mitten in Brandenburg. Zugezogene aus der Hauptstadt sehen zunächst das romantische Landleben. Die Idylle fängt an zu wackeln, als ein Spekulant große Brachflächen rund um das Dorf erwirbt. Das nächste Beben erscheint in Gestalt eines Beauftragten einer Firma, die Windkraftanlagen rund um Unterleuten aufstellen will.
Im Schmelztiegel Unterleuten ist der Kampf der Kontrahenten eindrücklich geschildert und zeigt auf, wie schnell Kleinigkeiten eskalieren können.


Stil und Sprache
Juli Zeh hat sich viel vorgenommen, den Dorfroman einer Metamorphose zu unterziehen und ihn in der gegenwärtigen Neuzeit, mit all ihrem Fortschritt und ihrer Digitalisierung, anzusiedeln. Vor uns wird ein Mosaik von Schicksalen ausgebreitet, die durch ihre Vergangenheit miteinander verbunden sind. Das innerdörfliche Geflecht wird empfindlich gestört, als sich „Westdeutsche“ dort niederlassen und den Dorfbewohnern zeigen wollen, wie die moderne Welt funktioniert. Nicht nur, dass die Natur und Vögel schützenswert sind, sondern auch dass das Sozialgefüge ab jetzt ein anderes sein wird. Hier konkurriert die vorgebliche Intelligenz der Hauptstädter gegen den hinterwäldlerischen Pragmatismus der Dörfler.

Die Fülle der Erzählstimmen ergibt ein detailliertes Kaleidoskop der Gesellschaft und bildet zugleich den Körper des Dorfes. Zeh überschreibt ihre Kapitel mit dem jeweiligen Erzähler, die abwechselnd zu Wort kommen. Durch den ständigen Perspektivwechsel stellt sich eine emotionale Dynamik ein, die sich leider zum Ende des Buches ein wenig verliert. Die Spannung entsteht aus dem Gegensatz der Innen- und Außensicht. Die Innensichten der Figuren stehen disparat zur Außenwirkung.
Der überwiegend nüchterne Erzählstil lässt den Leser eine gewisse Distanz wahren, ganz so, als wolle sie nicht, dass man den Dorfbewohnern zu nahe kommt, genauso wie die Einheimischen nicht wollen, dass sich die Zugezogenen in deren Angelegenheiten einmischen. Die Psychologie des Romans lässt einen in zwiespältige Gefühle gleiten, manchmal wächst einem der Erzähler ans Herz, um ihn im nächsten Moment wieder von sich zu stoßen.
Zeh ist eine feine Beobachterin ihrer Umwelt, sie zeichnet ihre Figuren nicht nur mit wenigen Pinselstrichen, sie entlarvt sie auch. Sie stellt sie in einer menschlich nachvollziehbaren Weise bloß, in der der Leser sich hin und wieder dabei ertappt, ein Teil dieser Figur zu sein. Er findet sich in den bildhaft dargestellten pragmatisch-nüchternen Gedanken wieder. Gut und Böse verschmelzen zu einem übergreifenden Geflecht an Anschuldigungen.


Figuren
Unterleuten ist ein Dorf, wie es im Buche steht und auch nicht ganz frei von Klischees, ohne dass sie wie Stereotypen wirken: Ein Professor samt Ehefrau aus der nahen Hauptstadt, die das Dorfleben als eine romantische Urlaubsreise betrachten, sich für den Schutz einer seltenen Vogelart, dem Kampfläufer, einsetzen und sich das Dorf damit zum Feind machen. Eine zugezogene Pferdenärrin, die vom eigenen Pferdehof träumt, samt ihrem leicht vertrottelten Freund, der in Berlin als Softwareentwickler arbeitet. Eine alte Fehde zwischen den zwei alteingesessenen Familien Kron und Gombrowski, bei der der eine dem Kommunismus weiterhin frönt und der andere den Kapitalismus verstanden hat. Einen stoischen Bürgermeister, dessen Ehefrau Stasipitzel war; einen Verrückten im Tipi, ein vierschrötiger Automechaniker, zuständig für alles Grobe, Totschlag inklusive, in der dorfinternen Struktur und eine Alte mit zwanzig Katzen in ihrem kleinen Häuschen und scheinbar die  Geliebte von Gombrowski.
Und nicht nur das. Unterleuten hat auch dieselbe typische Geschichte eines Dorfes der ehemaligen DDR hinter sich: Die im Namen des Sozialismus übliche Vereinnahmung der privaten Produktionsmittel in die Gemeinwirtschaft. Die landwirtschaftlichen Flächen wurden zwangsenteignet und in eine LPG überführt. Gombrowski hat diese LPG geleitet und musste diese dreißig Jahre später nach der Wende in eine neue Form überführen, ansonsten drohte ein weiteres Mal die Enteignung. Gombrowski, heimliches Oberhaupt dieses skurrilen Dorfes, hat in seinem Pragmatismus den neuen Kapitalismus verstanden und kämpfte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, damit die LPG zu seiner „Ökologica“ wurde.
Das Potpourri der Gesellschaft wird im Soziotop Unterleuten imposant vor uns ausgebreitet. Obwohl die Hauptstadt nur 100km entfernt ist, funktioniert das autarke Dorfleben mit seinen Spielregeln eines immateriellen Tauschhandels wie in alten DDR Zeiten. Es ist, als ob die Grenze zwischen Freiheit und Gefangenschaft, zwischen Macht und Ohnmacht in den Köpfen der Dorfbewohner noch existiert. Auch die äußeren Strukturen zeigen das: Das Dorf ist zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch nicht an die öffentliche Kanalisation angeschlossen. Die Scheiße steht buchstäblich im Garten und wird einmal in der Woche abgeholt. Die von der Politik versprochene prosperierende Landschaft ist in Unterleuten nicht angekommen.
Als dann noch ein in Geld schwimmender Unternehmensberater aus dem Westen viel Land vor den Toren des Dorfes kauft, ist es mit dem Frieden im Dorf endgültig vorbei. Eine Investmentfirma will auf diesen Flächen einen Windpark errichten. Die Bewohner erfahren davon in einer Dorfversammlung, die in einem großen Tumult endet und die offizielle Kriegserklärung darstellt. Jeder gegen jeden, denn ein jeder will seine eigenen Interessen wahren.
Auch die Fehde zwischen Kron und Gombrowski erfährt ihren Höhepunkt. Das ganze Dorfleben dreht sich um die Fehde, die bis in die fünfziger Jahre zurückreicht. Kron wittert seine Chance seinen Widersacher Gombrowski dieses Mal zur Strecke zu bringen und ruft zum Streik in der „Ökologica“ während der Erntezeit auf.

Die verhassten Windräder, die Unterleuten Geld in die Kassen spülen soll, sind für jedermann die sprichwörtlichen Windmühlen.


Aufmachung des Buches
Das Taschenbuch zeigt auf dem Cover den schützenswerten Kampfläufer, der den einen oder anderen Nachbarschaftsstreit auslöst.


Fazit
Keine Figur kommt in diesem Roman unbeschadet davon. In Juli Zehs Roman kommt keine Langeweile auf, es ist mitreißend, quecksilbrig und dazu noch sehr lehrreich.


4 5 Sterne


Hinweise
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