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Durch die bunten Glasmosaike der Fenster fielen die letzten Sonnenstrahlen. Die Heiligen schienen auf magische Weise in diesem ersterbenden Licht des Tages zu leuchten. Keine Stunde mehr und die Dunkelheit würde sich auf die Kirche herabsenken. Ebenso wie auf den Rest des Dorfes. Und bald darauf würde der Mond den Himmel erobern und sein fahles Licht durch die Scheiben schicken.
Es war jeden Abend aufs Neue ein wundervolles Schauspiel. Diese kurze Zeitspanne, wenn die Heiligenbilder in den hohen Spitzfenstern der gotischen Kapelle zu leben begannen. Wenn sie selbst ihre kleinen Geschichten erzählten. Erfüllt von einer Pracht, die nur der Himmel schenken konnte. Pater Sebastian begann nun, die Kerzen im Kirchenschiff zu entzünden. Zwar verirrte sich nur noch sehr selten eine Seele nach Einbruch der Nacht hierher, aber er achtete dennoch sorgsam darauf, dass die Kerzen ein warmes Licht verströmten, der Weihrauch in seinen Schalen brannte und die Luft der Kirche schwängerte. Er selbst zog sich, nachdem alles zu seiner Zufriedenheit arrangiert war, in den Beichtstuhl zurück und wartete geduldig auf all jene, die das Bedürfnis verspürten, sich von ihren Sünden loszusagen. Meist blieb er dabei die ganze Nacht allein. Aber man konnte ja nie wissen. Er fühlte sich seinen Schäfchen gegenüber verpflichtet.
In dieser Nacht begab er sich wie gewohnt in seinen Beichtstuhl und vertiefte sich in seine kleine Bibel.
Es musste kurz nach Mitternacht sein, denn er hörte noch den letzten Schlag der Kirchturmuhr verklingen, als sich eine sehr merkwürdige Atmosphäre über das Gotteshaus legte. Er war wohl eingeschlafen, so etwas passierte ihm normalerweise nicht. Während er sich wieder aufrappelte, hörte er draußen Schritte. Sie kamen den langen Mittelgang entlang, zwischen den Reihen der polierten Holzbänken hindurch. Tiefe, feste Schritte auf dem kalten Stein des Kirchenbodens, die von den Wänden widerhallten. Eindeutig männliche Schritte. Und Sekunden später bauschte ein eisiger Wind die Vorhänge des Beichtstuhles. Pater Sebastian wollte schon aufstehen, um nachzusehen, wer da wohl gekommen sei und warum dieser Jemand das Hauptportal offengelassen hatte, da legte sich die Windböe schon wieder und auf der anderen Seite des kleinen Gitterfensters nahm jemand Platz. Pater Sebastian verwarf den Gedanken, nachzusehen und schob stattdessen die Trennwand zurück, um dem Besucher die Beichte abzunehmen.
„Guten Abend, mein Sohn. Was führt dich hierher?“
„Vergebt mir, Vater, denn ich habe gesündigt.“
Die Stimme war ruhig und sehr klar. Sie hatte einen angenehmen Klang. Melodisch, mit einem sanften Tremolo darin. Fast so, als schlüge man eine Harfe an, oder ließe eine tiefe Glocke läuten. Pater Sebastian spürte, wie diese Stimme etwas in seinem Herzen zum Leuchten brachte. Auch wenn er sich nicht recht erklären konnte, wie das kam. jamila
„Gott vergibt dir alle Sünden, mein Sohn. Sprich, wie hast du dich versündigt?“
„Ich habe mich an Gott selbst versündigt, Vater‘, antwortete die Stimme und der Schmerz der in ihr mitschwang war nahezu körperlich fühlbar. „Denn ich habe ihn angezweifelt. Seine Macht und seinen Willen.“
„Gott unser Vater ist allmächtig, mein Sohn. Das weißt du. Wie kannst du da an ihm zweifeln?“
„Weil ich nicht einer Meinung mit ihm war. Und nicht gerecht fand, wie er die Menschen behandelte.“
Pater Sebastian musste schmunzeln. Viele der Menschen, die zur Beichte kamen, fühlten sich von Gott ungerecht behandelt. Weil seine Wege nicht immer sofort klar erkennbar waren. Und weil jeder stets meinte, alle anderen hätten ein besseres Los. Es war also gar nicht ungewöhnlich, was der Mann da sagte.
„Es geht nicht um mich, Vater‘, fuhr die Stimme fort, ganz so, als habe sie Pater Sebastians Gedanken gelesen. „Es geht um das, was Gott den Menschen angetan hat, als er sich von ihnen abwendete.“
Der Pater räusperte sich, denn solche Worten fand er überaus unangenehm, weil sie unpassend waren in einer Kirche.
„Aber, aber‘, tadelte er, „Gott wendet sich nie von seinen Kindern ab. Er ist stets bei uns.“
„Da irrt Ihr, Vater. Er hat sich abgewendet. Schon vor langer Zeit. Ich weiß es genau. Weil er es mir gesagt hat.“ Die Stimme klang traurig, fast schon ein bisschen verzweifelt.
„So, so, er hat es dir gesagt. Und was hast du ihm geantwortet?“ fragte Pater Sebastian nach. Allmählich überkam ihn ein ungutes Gefühl. Da wollte sich doch hoffentlich niemand einen schlechten Scherz mit ihm erlauben.
„Ich sagte ihm, er dürfe sie nicht dafür verurteilen, dass sie in ihrer Unwissenheit die Gaben falsch nutzen, die er ihnen geschenkt hat. Dass er sie lehren müsse, wie sie es besser machen können. Aber er war taub gegen meine Worte. Und blind gegen das Leid, das er den Menschen brachte, indem er sie vergaß.“
„Mein Junge, für Schabernack ist dies nicht der rechte Ort“ meinte Pater Sebastian nun ärgerlich. „Was du da sagst ist respektlos gegenüber unserem Herrn. Bedenke, du bist hier in einer Kirche. “
„Ich weiß, Vater. Wo, wenn nicht in der Kirche sollte ich dieses Vergehen beichten, dass ich Gott anzweifelte.“
„Dann erweise dieser Institution auch den nötigen Respekt und hör jetzt auf mit diesem Unsinn. Hast du etwas zu beichten, oder willst du nur Märchen erzählen?“
Die Gestalt auf der anderen Seite des Beichtfensters schüttelte mit einem Seufzen den Kopf.
„Nun“, sagte die Stimme dann erneut „Ich will es anders versuchen. Lasst mich Euch bitte eine Geschichte erzählen, Vater. Vielleicht versteht Ihr sie besser.“
Pater Sebastian gab nur ein zustimmendes Geräusch von sich. Er war neugierig, was jetzt noch kommen würde. Aber auch zornig über seinen Besucher, dem es so offenkundig an Respekt mangelte.
„Aber zuvor versprecht mir bitte“, bat die Stimme, „dass Ihr mich nicht unterbrechen werdet, bis ich geendet habe.“
„Gut, ich verspreche es dir.“
„Schwört Ihr es, bei Gott?“
Erneut schwoll der Zorn in Pater Sebastian an, aber er erwiderte gepresst: „Ja, ich schwöre bei Gott.“
Und der Fremde begann zu erzählen.
„Am Anfang gab es nur Gott und seine Engel im himmlischen Reich. Gott hatte noch keine Erde erschaffen. Noch kein Wasser. Noch keine Pflanzen. Keine Tiere und auch keine Menschen. Es gab nur seinen Garten Eden. Und dort lebte er mit seinen Söhnen – seinen Engeln. Einen Engel liebte er besonders. Seinen ersten Sohn. Den Engel des Lichts – Luzifer.“
Pater Sebastian hatte schon eine scharfe Erwiderung auf der Zunge. Wie konnte man es wagen, im Hause Gottes vom Satan zu sprechen. Doch die Stimme ermahnte ihn, an sein Versprechen zu denken und die Geschichte nicht zu unterbrechen. Also schwieg er.
„Gott verbrachte sehr viel Zeit mit seinem Lieblingssohn. Und er erzählte ihm alles. Zwischen den beiden herrschte ein Vertrauen, wie es sich Menschen nicht vorstellen können. Und so erzählte Gott dem Engel Luzifer auch von seinen Plänen, einen zweiten Garten Eden zu erschaffen. Und dort Pflanzen und Tiere wachsen und gedeihen zu lassen, wie im Himmel selbst. Als Krone seiner Schöpfung wollte er Wesen dort hineinsetzen, die wie seine Engel aussehen sollten. Nur ohne Flügel. Und sie sollten über diesen Garten Eden wachen und ihn verwalten. In seinem Namen. Dafür wollte er ihnen alle Fähigkeiten schenken, die sie brauchen würden. Einen Verstand, die Dinge zu begreifen. Und Gefühle, um den Verstand zu leiten. Luzifer war darüber so glücklich, dass er es kaum erwarten konnte. Jeden Tag begleitete er Gott und sah, wie der zweite Garten Eden wuchs. Schließlich wurde es Zeit, die Abbilder der Engel hineinzusetzen.
„Ich nenne sie ‚Menschen‘!“ sagte Gott.
‚Menschen!“ wiederholte Luzifer ehrfürchtig und schaute sich diese Geschöpfe an. Sie waren wunderschön. Genauso, wie die Engel. Aber als Luzifer sie sich ansah, wurde er traurig. Und Gott fragte ihn, warum er so traurig sei.
„Es fehlt ihnen etwas“, erklärte Luzifer. „Kannst du ihnen nicht doch Flügel geben?“
Gott wollte aber, dass es den Engeln vorbehalten blieb, Flügel zu besitzen. Damit sich die Menschen von ihnen unterscheiden würden, wenn er sie eines Tages ins Himmelreich einließe. Trotzdem wollte er seinem Lieblingssohn eine Freude machen. Und deshalb gab er ihnen etwas, das ähnlich wie die Flügel der Engel war — eine Seele. Und diese Seele konnte fliegen, wenn sie sich mit dem wertvollsten aller Gefühle, mit der Liebe, füllte. Luzifer gefielen diese Seelen, und er verbrachte fortan unendlich viel Zeit damit, die Menschen und ihre Entwicklung zu beobachten. Und wann immer eine Seele sich mit Liebe füllte und fliegen lernte, wurde ihm warm ums Herz.
Gott aber schaute nicht weiter nach dem, was er erschaffen hatte. Erst müsse das Leben lernen. Müsse sich entwickeln. Ohne, dass sie sich einmischen würden.
„So etwas braucht Zeit“, erklärte er Luzifer und ermahnte ihn, das Leben sich selbst zu überlassen, weil jeder Eingriff das Gleichgewicht stören würde.
Aber Luzifer konnte nicht anders, als jeden Tag zuzusehen, wie sich das Leben – und besonders die Menschen – entwickelten. Manches was er dort sah machte ihn mit der Zeit traurig. Und er wollte so gerne helfen. Aber er durfte sich ja nicht einmischen. Gott hatte es verboten. So erzählte er Gott oft von dem, was er sah, in der Hoffnung, dass dieser sich seiner Schöpfung wieder annehmen würde. Aber lange Zeit geschah nichts dergleichen. Gott hörte ihm zu, lächelte und widmete sich anderen Dingen. Endlich dann — nach Hunderten von Jahren — kam auch Gott eines Tages wieder hinzu, um zu sehen, was aus seiner Schöpfung geworden war.
Was er sah, enttäuschte ihn sehr. Die Menschen hatten schlecht mit ihren Fähigkeiten gewaltet. Sie hatten sich die Erde unterworfen. Hatten sie missbraucht und zerstört. Sie waren habgierig geworden und führten Kriege gegeneinander.
„Was sind das für Kreaturen?“ seufzte er. „Sie haben alles falsch gemacht. Solchen Wesen erlaube ich nicht, mein Himmelreich zu betreten. Und solche Wesen, haben auch keine Seele verdient.“
Luzifer war erschüttert über diese Worte.
„Vater, nein, du kannst ihnen doch nicht die Seele wegnehmen. Wie sollen sie dann noch fliegen können, wenn nichts mehr da ist, was sich mit Liebe füllt?“
Tröstend legte Gott seinem Engel die Hand auf die Schulter.
„Sie haben ihre Seelen nicht benutzt, um zu lieben. Sie haben nichts von dem genutzt, was ich ihnen gab. Hass und Neid und Zorn sind ihre Leitbilder. Sie wollen gar nicht fliegen, mein Sohn. Und deshalb sollen ihre Geister seelenlos im Nirgendwo dahintreiben. Bis ans Ende aller Zeit.“
Das konnte Luzifer nicht glauben. Dass Gott sich von der Schönsten seiner Schöpfung abwendete.
„Aber sie trifft doch keine Schuld“, bettelte er. „Wie sollten sie denn lernen, ohne Lehrer?“
Mit einem Mal war es ganz still im Himmel. Selbst die anderen Engel hielten den Atem an.
„Was sagst du da?“ fragte Gott. Aber Luzifer ließ sich nicht einschüchtern.
„Du hast sie zurückgelassen, Vater. Ohne Lehren. Hast dich nicht um sie gekümmert. Es hat ihnen nie jemand gezeigt, wie sie ihre Fähigkeiten nutzen sollen. Und jetzt verurteilst du sie, statt ihnen zu helfen, es besser zu machen. Sie trifft keine Schuld, sondern dich!“
Das Gesicht des Himmelsvaters verdunkelte sich. Und mit diesem Dunkel, erlosch auch das Licht Luzifers. Denn obwohl er der Engel des Lichts war, so kam doch auch sein Licht allein von Gott.
„Du stellst dich gegen mich?“ fragte Gott. „Du stellst dich auf die Seite dieser Kreaturen?“
„Nein, Vater, ich stelle mich nicht gegen dich. Aber ich bitte dich, Ihnen noch eine Chance zu geben, weil ich sie lieb gewonnen habe.“
„Sie hatten jede Chance der Welt. Sie hatten alles. Und haben es weggeworfen.“
„Nimm ihnen nicht die Seelen, Vater. Ich bitte dich, nimm ihnen nicht die Seelen. Gib ihnen noch eine letzte Gelegenheit, es besser zu machen.“
„Und warum sollte ich das tun?“ fragte Gott.
„Weil ich es mir wünsche“, sagte Luzifer, “Weil ich sie liebe.“
Eine Weile sagte Gott nichts mehr. Dann erhob sich seine Stimme über das ganze Himmelreich.
„Wenn du, Luzifer, meinst, dass sie einen Lehrer brauchen. Wenn du denkst, du könntest ihre Seelen läutern. Dann will ich dir ein Reich erschaffen und dir ihre Seelen schenken. Diese Seelen, die du so sehr liebst. Und wen du läuterst, den will ich willkommen heißen in meinem Himmelreich. Doch die anderen sind zur Finsternis verdammt. So wie du zur Finsternis verdammt bist, wenn du diesen Himmel verlässt, um über solch ein Reich zu herrschen. Du hast die Wahl.“
Unter den Engeln entstand eine große Unruhe. Viele waren der Meinung, dass das nicht recht sei. Andere wiederum meinten, es wäre längst Zeit, Luzifer in die Schranken zu weisen. Luzifer selbst zitterte. Den Himmel verlassen? Seine Heimat?
„Nun, sind dir die Menschen doch nicht soviel wert?“ höhnte Gott. Luzifer schwieg. Er fürchtete sich. Zum ersten Mal in seinem Leben fürchtete er sich. Gott lächelte und wollte schon gehen, um die Sache wieder zu vergessen, da sein Lieblingssohn wohl doch zur Vernunft gekommen war. Luzifers Licht
kehrte zurück, als der Schatten Gottes wich, und mit seinem Licht auch sein Mut.
„Vater!“ sagte er plötzlich. „Sie sind es mir wert.“
Im nächsten Moment fühlte Luzifer wie er fiel. Tief hinab in einen düsteren Schlund. Und ihm folgten alle Seelen, die sich bereits von ihren menschlichen Hüllen gelöst hatten. Er fiel in sein Reich, und sein Reich war die Finsternis. Er hörte die Stimmen der Engel, die Gott baten, sich diese Entscheidung noch einmal zu überlegen. Und auch diese Engel fielen mit ihm in diesen grauenhaften Abgrund. Es gab kein Erbarmen.
„Hier hast du dein Heer. Dein Heer der Engel, die hinter dir stehen. Läutere die Menschen, du und dein Gefolge“, sprach Gott. „Und lehre sie. In Versuchung sollst du sie führen, und ihnen den Spiegel ihrer Verdorbenheit vor Augen halten. Und wenn du sie läuterst, vergebe ich ihnen. Dir aber, mein Sohn, und den Engeln, die sich dir anschließen, vergebe ich erst, wenn alle Seelen geläutert sind, und du mir damit bewiesen hast, dass diese Kreaturen fähig sind, zu lernen. Wenn du mir bewiesen hast, dass du im Recht warst und ich im Unrecht. Erst dann sollst du mit deinen dunklen Engeln wieder nach Hause zurückkehren.“
Und so ist es geschehen, dass der Engel des Lichts aus dem Himmel fiel. Weil er die Menschen so sehr liebte, dass er diese Liebe über Gott stellte.“
Die Stimme schwieg jetzt. Pater Sebastian zitterte vor Wut über solchen Frevel in seiner Kirche.
„Bist du jetzt endlich fertig, ja?“ fragte er mühsam beherrscht.
„Ja, ich bin fertig“, antwortete die Stimme so sanft wie zuvor. So sanft und ruhig, wie sie diese ganze Geschichte erzählt hatte.
„Wie kannst du es wagen, im Hause Gottes etwas so Schändliches zu erzählen? Wie kannst du solche Märchen erfinden und den Namen unseres Herren in den Schmutz ziehen?“
„Aber was ich erzähle, ist die reine Wahrheit. Ist nicht eines von Gottes Geboten stets die Wahrheit zu sprechen und nie zu lügen? Gleich wie furchtbar die Wahrheit auch sein mag.“
„Ach, und woher willst du das wissen?“
Stille. Dann ein leises Wimmern, ein Schluchzen. „Weil ich in diesen Abgrund fiel. Weil ich Gott versuchte, um der Menschen willen. Weil ich an diese Menschen glaubte. Weil ich glaubte, ich könne sie lehren. Doch ich habe mich geirrt. Und nun bitte ich euch, mich zu segnen und mir zu vergeben, damit Gott mir vielleicht auch vergibt und mich erlöst. Denn ich kann die Aufgabe, die er mir auferlegte nicht erfüllen. Und ich sehne mich nach meiner Heimat so sehr.“
Pater Sebastian hatte nun endgültig genug. Er erhob sich aus dem Beichtstuhl und riss draußen den Vorhang zur Seite, um diesem ungezogenen Bengel, der sich da offenbar einen Spaß machen wollte, ordentlich ins Gewissen zu reden. Aber bei dem Anblick, der sich ihm bot, wich er erschrocken zurück und bekreuzigte sich. Auf der Bank saß ein Geschöpf mit den sanftesten Augen, die er je gesehen hatte. Ein tiefes Meeresgrün, aus dem die Trauer und das Leid von Jahrtausenden sprach. Flammendrotes Haar fiel seidig bis zu seinen Hüften hinab. Es war ein Mann bekleidet nur mit einem schwarzen Lendenschurz. Sein Körper, muskulös und wohlgeformt, wie von einem Bildhauer in Perfektion gemeißelt. Die Haut war glatt und porenlos und schien ein eigenes Leuchten zu besitzen, das vom Schein der Kerzen noch verstärkt wurde. Feingliedrige Hände waren im Gebet gefaltet. Der üppige Mund schien zu lächeln und zugleich zu weinen. Und ja tatsächlich, eine Träne floss aus dem linken Auge, über die Wange hinab und fiel zu Boden, wo sie mit einem leisen Klirren aufschlug und liegen blieb. Ein Kristall. Funkelnd in den Farben eines Regenbogens.
Das Wesen erhob sich und trat aus dem Beichtstuhl hervor.
„Fürchtet Euch nicht vor mir‘, flüsterte es mit dieser sanften Stimme, die schon die ganze Zeit gesprochen hatte. „Ich will Euch nichts tun.“
Schwarze Schwingen ragten hinter seinem Rücken auf und er streckte sie sacht. Die einzelnen Federn wirkten wie aus Samt gefertigt und mit goldenem Engelsstaub bestreut.
„Ich bin noch immer ein Engel, ein Sohn Gottes. Und ich zürne Euch nicht noch will ich Euch verdammen. Ich tat es nie. Ich bitte Euch nur um Vergebung, Vater. Damit auch ER mir vielleicht irgendwann vergibt.“
„Was bist du?“ fragte Pater Sebastian und sank vor diesem Wesen auf die Knie.
„Ich bin Luzifer, der Engel des Lichts, Gottes ungewollter Sohn. Und ja, ich bin der Verführer der Menschen. Doch glaubt mir, nur um ihre Seelen zu läutern und ihnen das Tor des Himmels zu öffnen. Und nicht, um sie zu verdammen und im Fegefeuer in Ewigkeit zu quälen. Denn das Schicksal der Menschen ist auch meins. Ich sehne mich so sehr danach, wieder in den Himmel zurückzukehren.“
„Und du kannst es nicht!“ stellte Pater Sebastian mit leiser Stimme fest und erhob sich langsam wieder. Dieses Wesen bedrohte ihn nicht. Dieses Wesen litt. Und er hatte Mitleid.
„Nein“, bestätigte der Engel, „ich kann es nicht.“
„Weil die Menschen gescheitert sind.“
Da schüttelte der Engel sein Haupt, dass sich sein rotes Haar wie flüssiges Feuer bewegte und wandte sich traurig zum gehen.
„Nein, Vater. Sie trifft noch immer keine Schuld. Ich bin gescheitert.“


Anmerkungen:
13. Mar. 2009
bereits veröffentlicht im Buch "Zwischen den Welten" 


Veröffentlichung auf www.leser-welt.de mit freundlicher Genehmigung von LITERRA.

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