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„Herrschaft, Vera! Es ist zwei Uhr morgens! Du wirst doch wohl nicht aufstehen, Ausweise holen und Taschen packen. Ich dachte, das hätten wir ...“
Ein ohrenbetäubender Donnerschlag verschluckte den Rest des Satzes. Aber ich wusste auch so, was mein Mann sagen wollte.
„Nein, nein, ich – also – ich hole mir nur ein Glas Wasser.“ Zu dumm, dass ich dabei stottern musste und zu dumm, dass Lothar einen leichten Schlaf hat.
„Na, lauf schon, sonst ist es mit der Nachtruhe für uns vorbei“, grinste er unverschämt breit und rollte sich auf die Seite.
Beim nächsten Blitz zuckte ich zusammen, überlegte wo ich „das Notwendigste“ hatte und setzte mich in die Küche. In diesen schlaflosen Nächten dachte ich oft an meine Großeltern, die mich nach dem Krieg liebevoll aufgezogen hatten.


„Vera, schnell, steht auf! Kind, trödle doch nicht so!“ Selbst beim leisesten Gewittergeräusch weckte mich meine Großmutter.
Sie ließ mir nie Zeit, den Schlaf aus den Augen zu wischen, zog mich am Arm in die Küche und setzte mich auf das kleine Sofa. Dann wurde ich von Kopf bis Fuß angezogen, in eine flauschige Decke gekuschelt, durfte mich anschließend auf das dicke Kissen legen und Oma zusehen. Sie kontrollierte ihre kleine braune Tasche, nahm immer wieder die Ausweispapiere in die Hand, um sie zurück in das kleine Reißverschlussfach zu schieben. Dann prüfte sie die Geldbörse, zählte die Groschen und rief: „Wilhelm! Wo bleibst du?“
Aber mein Großvater stand nie auf, manchmal schnarchte er demonstrativ noch lauter. Und so legte sie, ein wenig beleidigt vor sich hinbrummelnd, seine Hose, die Wäsche und ein Hemd säuberlich über den Küchenstuhl.
Auf meine Frage, warum wir bei jedem Gewitter so ein Mordstheater machten, hatte sie tausend Antworten: Bei ihren Eltern auf dem Bauernhof hätte der Blitz eingeschlagen, und sie hätten sich vor den Flammen nur mit Müh und Not retten können. Eine Tante wäre im Freibad bei einem Gewitter getötet worden. Natürlich legte man Nadel und Schere auf den Tisch, strickte nicht und aß schnell seinen Teller leer, damit man das Besteck aus Metall beiseite legen konnte. – Ein Onkel habe eine Sense in der Hand gehabt, sei dabei vom Blitz getroffen worden und – bis er endlich sterben konnte – ein Pflegefall gewesen. Wieder andere konnten nur die nackte Haut retten – „weil sie nicht vorgesorgt und eine Tasche mit dem Notwendigsten bereitgestellt hatten.“
Diesen letzten Satz sagte sie besonders heftig und laut, damit Großvater ihn auch keinesfalls überhören konnte. Natürlich schlief er bei dem Radau nicht mehr, und Großmutter wusste das. Und Opa Wilhelm wusste, dass seiner überängstlichen Frau Helene das auch bekannt war.
Wenn sich ein Gewitter tagsüber zusammenbraute, hörte er sich ihre Gräuelgeschichten belustigt an und zog Grimassen, so dass ich lachen musste. Oma fand das aber nie lustig und bedachte mich mit einem strafenden Blick.
In manchen Sommermonaten waren die Nächte sehr, sehr kurz, und ich schlurfte morgens noch halb schlafend die fünf Kilometer bis zur Schule. Wir hatten allerdings auch besonders viele Gewitter. Unsere kleine Stadt lag in einem Tal, und es war nicht selten, dass sich drei, vier Gewitter auf einmal trafen, bis die nicht mehr so schweren Wolken über die hohen Berge davonziehen konnten.
Das nächtliche Aufstehen ging mir so in Fleisch und Blut über, dass ich es auch praktizierte, als ich schon längst in München wohnte und arbeitete.
Und dort lernte ich Mitte der sechziger Jahre Lothar kennen. Ich kann mich so noch gut an das erste, gemeinsame, nächtliche Naturereignis erinnern.
Es muss kurz nach Mitternacht gewesen sein, als mich die grellen Blitze weckten. Das unheilvolle Donnergeräusch war noch weit weg.
„Lothar – Lothar! Es kommt ein Gewitter!“ Ich rüttelte an seiner Schulter. „Looothar!“
„Das wurde aber auch allerhöchste Zeit. Der Boden ist schon ganz ausgetrocknet“, murmelte er verschlafen und versuchte, meinen Kopf an seine Schulter zu ziehen.
So hatte ich mir das nicht gedacht! Geräuschvoll stand ich auf, knipste die Nachttischlampe an, ging ins Bad und zog mich an. Als ich zurückkam, hatte er sich die dünne Decke über den Kopf gezogen und prustete leise gegen den Bezug.
Meine weiße Tasche stand auf dem Frisiertisch, und ich kontrollierte den Inhalt: Ausweis, Brieftasche, Führerschein, Versicherungspolice. Das Gewitter kam näher. Sorgfältig packte ich alles wieder ein und rief etwas schärfer: „Lothar! Steh auf!“
Blinzelnd setze er sich: „Was schaffst du da? Was ist los?“
Langatmig erklärte ich ihm, was mir meine Großmutter beigebracht hatte und verschonte ihn auch nicht mit all den Begebenheiten, die unsere Familie angeblich dezimiert hatten, während ich nervös das Bettelarmband vom Handgelenk nestelte.
„Ich nehme jetzt einfach mal an, dass das ein Scherz sein soll, Vera. Ein blöder, saublöder Scherz – mitten in der Nacht!“ Er sah auf die Uhr. „In vier Stunden muss ich aufstehen. Komm, leg dich wieder hin. Das Gewitter geht vorbei, auch ohne, dass du stundenlang auf dem Bettrand hocken bleibst.“


In späteren Jahren wurde er auch manchmal richtig ärgerlich. „Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich hielt dich immer für eine vernünftige junge Frau. – Wir wohnen mitten in einer Großstadt. Noch nicht mal zweihundert Meter weiter steht die Kirche. Wenn tatsächlich ein Blitz einschlagen sollte, sucht er sich den höchsten Punkt, und das ist die Kirchturmspitze ...“
„Und wenn er die nicht findet?“
Lothar sah mich völlig entgeistert an. Wahrscheinlich verwünschte er einen Augenblick den Tag, als er mich fragte, wann ich ihn endlich heiraten würde. O Himmel! Hoffentlich nur einen winzigen Augenblick lang.


Die Angst bei einem Gewitter habe ich nie ganz verloren. Ich stehe zwar nicht mehr auf, liege dafür aber halb erstarrt im Bett und kralle mich an der Zudecke fest. Dann zähle ich die Sekunden zwischen Blitz und erstem Donnerschlag – und taste auf dem Boden neben dem Nachtkästchen nach meiner Tasche mit dem „Notwendigsten“.
Wenn uns mal nachmittags ein kleines Gewitter überrascht, neckt mich Lothar heute noch. „Nnnaaa, schon alles gepackt?“
In den ersten Jahren unserer Ehe fühlte ich mich nicht erstgenommen und reagierte hitzköpfig. Alle Erklärungen meines Mannes, selbst das, was er mir schwarz auf weiß vorlegte, fegte ich mit einem „... das kann ja sein, aber ...“ vom Tisch. Ungeduldig maulte er dann leise vor sich hin: „Aber ... aber! Wie Oma Helene! Keinem Argument zugänglich!“


So waren ein paar Jahre lang die Sommermonate mit immer wiederkehrenden, kleinen bis mittleren Streitgesprächen ausgefüllt – bis unser Sohn 1970 auf die Welt kam.
In diesem Sommer hatte ich keine Zeit für Gewitterstimmungen. Ich war oft abends so erschöpft, dass ich todmüde ins Bett fiel und erst am nächsten Morgen von dem heißersehnten Gewitter, das endlich den dringend benötigten Regen brachte, hörte.
Paul war ein pflegeleichtes und fröhliches Kind. Trotzdem fand ich erst nach Monaten zu meinem alten Tagesrhythmus zurück – und da gab es keine Gewitterstürme mehr.


Im Mai des darauffolgenden Jahres hörte ich nachts das erste Donnergrummeln, stand sofort auf und lief ins Kinderzimmer. Junior lag friedlich schlafend in seinem Bett. Ich schob leise das vordere Gitter hinunter, setzte mich auf den Boden und nahm sein Händchen. Beim nächsten lauten Donnerschlag drückte ich wohl zu fest zu, und Paul wachte auf. Er strahlte mich sofort an, rollte sich auf den Bauch und zog sich am Gitter des Kopfendes hoch. Bei jedem Blitz lachte und krähte er, und ich hielt seine Hand immer noch fest umklammert. Durch sein „Uiii – daaa – booo“ wachte mein Mann auf und stand plötzlich neben mir.
„Na, wer tröstet hier wen?“, feixte er. Etwas ernster strich er mir übers Haar. „Wehe, du erzählst ihm die Horrorgeschichten deiner Großmutter!“
Und dann hielt ich die Luft an und schluckte. Er schob das Gitter hoch, fuhr doch tatsächlich das Bettchen direkt vor das Fenster und öffnete die Vorhänge.
Fast eine viertel Stunde verbrachten meine zwei Männer damit, den Donner nachzuahmen, die Blitze zischen zu lassen, und den Bäumen zuzusehen, die sich im Sturm schüttelten. Lothar erzählte zwischendurch seinem Sohn eine Geschichte, und ich wurde erst hellhörig, als ich immer wieder Namen von Familiemitgliedern hörte.
„... der Blitz ist für Tante Maria – und den Donnerschlag bekommt sie auch. Hast du gesehen? – Das war der schönste Blitz! Den schenken wir der Mama. – Warte! Gleich kommt noch ein Grollen – Jetzt! Fang es mit der Hand und halt es ganz fest.“
Quietschend drehte sich Paul zu mir, beide Händchen fest zu Fäusten geballt und schenkte mir mit einem „daaa“ Blitz und Donner. Ich nahm ihn in die Arme und schniefte ein wenig.
Das Spiel der Gewittergaben wurde von nun an bei uns Tradition. Meine noch rüstige Großmutter beteiligte sich nur recht zaghaft daran, aber Großvater war in seinem Element und der Lauteste und Ideenreichste, wenn er seine „Gaben“ verteilte.


Nachtrag im Jahr 2005: Im Januar wurden wir endlich Großeltern. Ich warte ungeduldig auf den Sommer, um unserem Lockenköpfchen die Geschichte von den Gewittergaben erzählen zu können und – natürlich ein wenig später – auch die Horrorgeschichten meiner Großmutter.


Anmerkungen:
10. Jun. 2008


Veröffentlichung auf www.leser-welt.de mit freundlicher Genehmigung von LITERRA.

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