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Musiker stimmten ihre Instrumente – vier, fünf Orchester gleichzeitig. Dieser infernalische Lärm! Das Dröhnen der Pauken, Disharmonie von Flöten und Geigen. Schrille Töne, die ihr Übelkeit verursachten.
Sie stand in einem großen, leeren Zuschauerraum, suchte mit verschwommenen Augen gehetzt nach einem Fluchtweg. Aber es gab keine Türen, nur kahle, sich schemenhaft ineinander schiebende Wände, und eine Bühne, vollgestopft mit fetten, verschwitzten Männern und Frauen, die überdimensionale Musikinstrumente malträtierten. Der Dirigent überragte sie alle. Wie ein Schwertkämpfer – breitbeinig stehend – hielt er einen konisch zulaufenden Holzprügel – den Dirigentenstab.
Ihre Beine gaben nach, taumelnd sank sie auf die Knie. Plötzlich näherte sich ihr eine zierliche, ältere Frau, winkte lächelnd, zeigte in aufkommende Nebelschwaden und flüsterte: "Du musst es wollen, Herzchen, du musst es dir mit aller Kraft wünschen – und du musst daran glauben – du musst es wünschen ..." Die letzten Worte waren kaum zu vernehmen, und die Gestalt löste sich auf, bevor sie nach ihr greifen konnte.
Übler Geruch stieg in ihre Nase. Würgend wurde sie bewusstseinsklarer, versuchte, mühsam die Augen zu öffnen. Aber sie konnte nur einen spaltbreit ein Lid bewegen.
Verwirrt sah sie durch grau-rote Schlieren auf einen verkrümmten linken Arm, bedeckt mit einer Bluse – ihrer Bluse.
Dieser widerliche Gestank!
Ihre Nase schien in gekochten und bereits verwesenden Schweinefüßchen zu stecken.
Ein durchdringender Pfeifton, der ihren Kopf zu spalten drohte, ließ die Musiker verstummen, und plötzlich war da fast nichts mehr. Nur noch ein leises, monotones Summen unter ihrer Schädeldecke. Allmählich ordneten sich ihre Gedanken, Fetzen setzten sich zu Teilen zusammen und webten einen Flickenteppich mit wilden Mustern. Sie starrte immer noch auf den Stoff, der einen leblosen Arm umhüllte.
Eine von Hannas abgelegten Blusen, die sie großzügig verschenkte – wie auch die Röcke, die ihr zu eng waren ... Hanna? ... Wer ist Hanna – ach ja, Hanna – 14-jährige Tochter der Freundin der dritten Frau von – Va... Vater ...
Wieder würgte sie, erbrach Galle und Schleim, bekam kaum Luft durch die verstopfte Nase.
Andere Gedanken – bitte – nicht Vater ... O Gott! Vaterland – Vaterliebe – Vater werden – Vater sein – Vaaater! ... Zur Hölle mit dir ... bitte andere Gedanken – an etwas anderes denken – Ja! – Mittags hatte es Schweinefüßchen gegeben. Auf gewiss zehn verschiedene Arten kann ich sie zubereiten: geschmort, gekocht, gebraten, süßsauer ... ekelhaft ...
Sie konnte ihre Hand nicht finden, um sich die stinkenden Ablagerungen von Mund und Nase zu wischen.
Was mache ich hier – das ist kein Traum – kein Film – kein Konzertsaal – aber ein Balkon –wolkenverhangener Himmel! – Unser Balkon im letzten Stockwerk des Hochhauses – Ich wohne hier. Ich bin ... mein Name ist – ich bin ...
Keuchend stemmte sie den rechten Arm gegen die Balkonwand und schob ihren Kopf ein paar Zentimeter aus dem halbverdauten Mittagessen.
Ich heiße – Anna – ich bin Anna – und – noch ein Jahr – verdammt, was ist in einem Jahr?
Sie kicherte wie eine Idiotin, eine Träne brannte über die aufgeschlagene Wange, als es ihr einfiel.
Zwanzig. Ich bin zwanzig und in einem Jahr volljährig. – Das Ende der Hölle ... Ich friere. Ich fühle. Der Boden ist so hart und kalt. Mein Gott, ich fühle. Ich lebe! – Gott? – Wer, zum Teufel ist Gott? – Wie kann ein Gott zulassen, was mit mir seit ich denken kann geschieht?– Er will dich prüfen, Kind, sagte der Pfarrer, als er mich für die Konfirmation vorbereitete, nachdem ich zuvor die Jugendweihe an Krücken gehend empfing. Und er sagte noch, dass Gott mich lieben würde ... Aber das sagte auch Oma, als ich sechs war – und sie sagte, ich müsse dran glauben – und sie versprach, wenn ich mir etwas von ganzem Herzen wünschte, ginge das auch in Erfüllung ... So wünschte ich mir, für immer bei ihr bleiben zu dürfen. Doch Wochen später war ich wieder bei fremden Leuten mit kräftigen Händen – den ach so ehrbaren Familien, die sich aktiv in Turn-, Gesangs- und Musikvereinen tummelten – und die nicht nur die Trommeln schlugen, und die nicht nur mit den Füßen Bälle kickten.
Anna hatte sich noch ein Stück zurückgeschoben, lag nun mit dem Gesicht auf dem nackten Betonboden und sah entsetzt, wie der Arm mit Hannas Bluse seine Stellung veränderte.
... und einige Male hatte ich in den folgenden Jahren »ich wünschte ...« gebrüllt, und ... – nein – ich will nicht daran denken – ich war doch noch ein Kind! Aber Margret, Norbert und Christa kommen immer noch fast jede Nacht, stehlen mir gute Träume, fragen, warum hast du das getan? Sie klagen mich an, mich – damals noch ein Kind –, ihnen den Tod geschickt zu haben, als ich im Zorn »... ich wünschte, du wärest tot ...« rief. Und ich sagte nie mehr »ich wünschte ...«
Erschrocken ruckte sie mit dem Oberkörper empor, es waren nur ein paar Zentimeter, als sich die Schneide eines Messers in ihre Wirbelsäule bohrte und sie in zwei Hälften teilte. Glaubte sie. Anna glaubte auch, tierisch zu schreien, aber von den aufgeschlagenen Lippen und aus dem mit trockenen Blutkoageln gefüllten Mund kam nur ein Ächzen.
... Gott!!! – Gooott! – Ich war die längste Zeit dein Liebstes – deine Testperson – dein Experiment – deine Prüfung – und die Antwort auf deine Frage, was ein Mensch aushalten kann ohne den Verstand zu verlieren. Ich hoffe jetzt nur noch auf meine eigenen Götter – die von mir – nur für mich – erschaffenen Götter – für ...
Die Trommeln in ihrem Kopf begannen erneut dumpf zu schlagen, eine Riesenwelle schwappte über sie hinweg, nahm ihr die Luft und kurzzeitig auch den Verstand. Als die Schmerzen, die Übelkeit und das Zittern überhand nahmen, hätte sie sich gerne den ewigen Schlaf gewünscht, aber der Wille zum Überleben war stärker.
Helft mir – helft mir – egal, welcher meiner Götter mir jetzt beistehen kann. Niemals wieder – und das ist mein Handel, das ist mein Versprechen – niemals wieder werde ich etwas für mich selbst erbitten. Nicht Gesundheit, nicht das ewige Leben, nicht Reichtum, nicht das Glück bis an mein Lebensende ... Nur noch dieses eine Mal gebt mir die Kraft ...
Und wieder sah sie sich in dem riesigen Konzertsaal und starrte auf die Musiker, die über ihr zu schweben schienen. Der Dirigent eilte herbei, stellte sich hinter das Pult, hob die Arme und alle Musiker schlugen auf ihre Instrumente. Langsam drehte er sich um, grinste zynisch, zeigte mit seinem Taktstock auf die blutverschmierte junge Frau zu seinen Füßen und schrie: "Wünsch dir etwas, Anna. Na los, Tochter, sag einfach – ich wünschte ..."
Die Worte hallten und die Wände gaben das Echo zurück – wünschte – wünschte – wünschte – und vermischten sich mit dem hämischen Gelächter der Menschen auf der Bühne. Alle Lippen waren blutrot übermalt, sie hatten Basedowaugen, die einigen bis auf das Kinn baumelten und dabei im Takt hin und herschwangen, als sie "ich wünschte" als Kanon einstudierten.


Bevor Anna auf dem Steinboden erneut die Sinne schwanden, sah sie eine Gestalt auf den Balkon treten – groß, kräftig, mit gewaltigen Händen, die sie an diesem Tag fast totgeschlagen hatten – der Dirigent. Der Vater.
Ohne sie zu bemerken, legte er seine Unterarme auf die breite Metallbrüstung und beugte sich ein wenig vor, als suchte er etwas.
Ich wünschte ... bat Anna stumm und mit aller Kraft die ihr geblieben war – ich wünschte ...


Leicht wie eine Feder, fast schwerelos, löste sich Anna von ihrem zerschundenen Körper und stand auf. Sie hatte keine Schmerzen mehr, konnte auch den linken Arm bewegen, der wieder fest mit ihrem Körper vereint war, und sie sah mit klaren Augen zu dem Mann auf. Sachte berührte sie seinen Arm. "Warum, Vater? – Dieser Hass – warum?"
Doch er hörte sie nicht. Er legte gerade beide Hände wie einen Trichter vor seinen Mund und brüllte etwas auf die Straße hinunter, zwölf Stockwerke tief.
Ohne Hast bückte sich Anna, umfasste zielsicher seine Unterschenkel und schob den Hünen über das Geländer. Ganz einfach. Ohne Kraftanstrengung.
Im Fallen drehte er sich um, hob eine Riesenhand, die sich in einen Taktstock verwandelte – als gäbe er den Einsatz für das große Finale seiner Orchester.
Doch die Frauen und Männer brachten nur Töne zustande, die wie Sirenen der Feuerwehren, der Polizeiwagen und der Krankentransporte klangen.


Erleichtert bettete sich Anna wieder in ihren Körper. Alle Geräusche wurden leiser, bis sie in dicken Lagen von Watte völlig erstickten. Nun fror sie nicht mehr, lag weich wie auf Daunenkissen und atmete tief die Düfte der Blumenbeete ein, die sich vor ihr ausgebreitet hatten, so weit das Auge reichte.
Anna fühlte, wie der Gott der Barmherzigkeit sie in weiße Seidentücher hüllte, ihr sanft über die Wangen strich und hauchte, sie würde wieder gesund werden, und sie spürte, wie er sie dem Gott der Zukunft in die Arme legte.
Und immer noch flüsterte Anna, wie es sie die Großmutter vor Jahren gelehrt hatte: "Ich wünschte ... ich wünschte ..."


Anmerkungen:
15. Mar. 2008


Veröffentlichung auf www.leser-welt.de mit freundlicher Genehmigung von LITERRA.

 

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